Beschreibung
Das 19. Jahrhundert war eine entscheidende Epoche in der Geschichte der deutschen Juden. Nachdem die
christliche Gesellschaft bisher auch in Kurhessen jahrhundertelang der unter ihr lebenden jüdischen
Minderheit die Gleichberechtigung verwehrt hatte, gelang den Juden jetzt der Aufstieg in die bürgerliche
Gesellschaft. Wie die Verfasserin am Beispiel der jüdischen Gemeinden in den kurhessischen Städten
Fritzlar, Greben-stein, Witzenhausen und Wolfhagen aufzeigt, war dies freilich auch jetzt noch ein mühsamer,
von vielfältigen Konflikten begleiteter Weg. Während die Obrigkeit von der jüdischen Bevölkerung
eine weitgehende Assimilation erwartete, fürchteten orthodoxe Juden die Zurückdrängung jüdischer
Bildung und Sitte.
Die Verfasserin behandelt ausführlich die Debatte um die jüdische Emanzipation und die vielfältigen
Gesetze und Verordnungen, die das Leben der jüdischen Bürger weiterhin regelten. Auch wenn schon
Anfang der 1830er Jahre ein Teil der jüdischen Bevölkerung eine gewisse Gleichberechtigung erhielt,
bestimmten doch nach wie vor vielerlei Widersprüche ihre Existenz: Während die Regierung die
„bürgerliche Verbesserung“ der Juden forderte, scheiterte deren Aufstieg in angesehene bürgerliche
Berufe oft genug am Widerstand der Zünfte und der örtlichen Obrigkeit. Andererseits war es den jüdischen
Gemeinden jetzt möglich, mit einer eigenen Synagoge im Stadtbild in Erscheinung zu treten,
Gelände für einen eigenen jüdischen Friedhof zu erwerben und für die Mikwe zu sorgen.
Mit welchen Schwierigkeiten dies indessen in der Praxis oft verbunden war, schildert die Verfasserin
ebenso anschaulich wie die Probleme des jüdischen Schulwesens, das für die kleinen jüdischen
Gemeinden eine hohe Belastung darstellte, aber in dem kurhessischen Staat notwendig war, der nur
Bekenntnisschulen kannte. Die Kasseler Dissertation beschreibt damit die wesentlichen Tatsachen und
Probleme, die den Aufstieg der jüdischen Bevölkerung in die bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert
begleiteten. Wertvoll sind auch die beigefügten Listen der jüdischen Gemeindemitglieder in den vier
kurhessischen Städten, weil sie zugleich genaue Angaben über die ausgeübten Berufe und die jüdische
Auswanderung – vor allem nach Übersee – enthalten. Der Verfasserin gelingt in ihrer Studie eine
beispielhafte Verbindung von allgemeiner Forschung und Alltagsgeschichte. So entsteht ein anschauliches
Bild kleinstädtischen jüdischen Lebens im 19. Jahrhundert.