Beschreibung
Einleitung
Unter Psychoanalytikern wird seit längerem über die 'neuen Pathologien' debattiert, die ihre Patienten in die psychoanalytische Praxis tragen. In meinem Umkreis dreht sich diese Debatte besonders um neue Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen. Immer mehr häufen sich Problematiken, die mit allen möglichen Formen von 'Sucht' zu tun haben, mit Bulimie, Identitätsstörungen, Lern- und Verhaltensproblemen in der Schule, kompulsive delinquente Neigungen und – nicht zu vergessen – quantitativ und qualitativ sich vervielfältigende psychosomatische Bilder. Demgegenüber verlieren die klassischen Bilder der Neurose – nach Freud die Zwangsneurosen und hysterische Neurosen – an Terrain, und wo sie auftreten, ist ihr 'klassisches' Profil oft abgeschwächt und abgewandelt.
Hinzukommt, daß mit der Etablierung und Konsolidierung der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen der Aktionsradius der Psychoanalyse sich auf Pathologien ausgeweitet hat, für die sich weder Freud noch seine Schüler gewappnet sahen: die schweren Primärstörungen narzißtischen und autistischen Typs. Schließlich hat sich, im Zuge der Ausbreitung der Psychoanalyse auch in psychiatrischen Kliniken, ihr Aktionsradius auch bezüglich erwachsener Patienten erweitert. Immer mehr Ärzte bringen ihr psychoanalytisches Instrumentarium psychotischen Bildern gegenüber 'in Anschlag' und immer mehr psychotische Patienten suchen Hilfe bei Psychoanalytikern außerhalb der psychiatrischen Institutionen, sei es von vornherein oder sei es im Zuge der 'Nachbetreuung'. Kurz gesagt, ist das klassische Anwendungsgebiet der an der Neurose entlang entwickelten psychoanalytischen Technik 'geschrumpft', und umgekehrt hat sich ein immer weiteres Feld psychoanalytischer Praxis aufgetan, an das bei der Ausarbeitung der theoretischen und technischen Grundlagen der Psychoanalyse vor 100 Jahren kaum zu denken war. Daß die so beschriebene aktuelle Situation für die Psychoanalyse eine Herausforderung darstellt, wird kaum jemand bestreiten. Aber wie hat die Psychoanalyse auf diese Herausforderung bisher reagiert?
Auf der einen Seite sticht ein Wildwuchs psychoanalytischer Schulen ins Auge, die im Unterschied zu den frühen Abspaltungen wie von Jung und Adler nicht mehr revidierte Antworten auf die gleichen Fragen geben wollen, sondern die um spezielle Themen und psychoanalytische Techniken herum entstanden sind: etwa die Objektbeziehungen (M. Klein, R. Spitz, Kernberg), den Narzißmus (Balint, Kohut), die frühkindlichen Psychosen oder Borderline-Phänomene (M. Mahler, Khan) sowie Ichstörungen aller Art (H. Hartmann, Erikson, Kris, Rapaport), die in der Ego-Psychologie eine andauernde und aus den USA gespeiste 'Hochkonjunktur' feiern.
Auf der anderen Seite hat sich eine Art Arbeitsteilung zwischen Medizin und Psychoanalyse entwickelt, nicht selten in der Person ein und desselben Arztes, die weniger auf einer Einsicht in das Verhältnis zwischen Körperlichem und Seelischem gründet, und mehr auf einem Pragmatismus, zusätzlich gefördert durch die Kostenabrechnungskriterien unserer Gesundheitssysteme. Dieser Pragmatismus hat zur Folge, daß das gleiche Störungsbild beim gleichen Patienten zugleich mit biochemisch begründeten Psychopharmaka und mit psychodynamisch begründeten psychoanalytischen Interventionen behandelt wird, ohne nach den Wechselwirkungen oder der therapeutischen Kompatibilität oder gar der epistemologischen Darstellbarkeit dieses 'Mixes' zu fragen. Über diesem Durcheinander lastet seit einiger Zeit noch zusätzlich ein immer aggressiverer humangenetischer Diskurs, dem die Psychoanalyse nichts Substantielles entgegensetzt, den sie vielmehr anscheinend mit der Haltung über sich ergehen läßt, daß ihre Tage ohnehin gezählt sind, wenn erst einmal für jede psychische Störung das zugehörige verantwortliche Gen gefunden worden ist (sieht man einmal von einem 'harten Kern' potentieller Klienten ab, die aus Gründen des life-style und privat finanziert der Psychoanalyse die Treue halten).
Alle genannten Aspekte haben eine gemeinsame Ursache im Fortdauern eines Dualismus von Körper und Seele im herrschenden psychoanalytischen Denken, und die Folge ist ein Nichteinlösen des im psychoanalytischen Konzept von Krankheit eigentlich liegenden Anspruchs, das Körperliche von der Psychoanalyse aus konsequent neu zu denken. Bei dieser kritischen Einschätzung denke ich vor allem an die deutschsprachige Psychoanalyse, denn immerhin gibt es inzwischen in anderen psychoanalytischen 'Kulturen' eine ganze Anzahl von Versuchen, die Umsetzung dieses Anspruchs eines authentisch psychoanalytischen und mit den Grundlagen der Freudschen Theorie konsistenten Körperkonzepts in Angriff zu nehmen. Für ein solches neues Denken des Körperlichen stehen die Namen Lacan, Nasio, Aulagnier, R. Rodulfo und Sami-Ali. Von diesen Ansätzen sind im deutschsprachigen Raum teilweise nicht einmal die Namen der Autoren bekannt (wie ich vor wenigen Jahren noch im Fall von Sami-Ali und Nasio feststellen konnte – ersteren habe ich inzwischen selbst mit einem ins Deutsche übersetzten Text vorgestellt – s. Sami-Ali 1998 – und von letzterem haben inzwischen einige Wiener Kollegen eine deutsche Übersetzung herausgebracht – s. Nasio 1999).
Dieses Problem des fortdauernden Dualismus Körper-Seele soll zunächst am Beispiel der Psychosomatik dargestellt werden. Daran anschließend soll an die genannten, grundlegend über den Raum des 'Seelischen' und damit des 'Neurosendenkens' hinausgreifenden Ansätze zu einem neuen Denken des Körper-Seele-Verhältnisses anhand ausgewählter Aspekte herangeführt werden, und zwar – mit dem Ziel einer logisch und historisch möglichst kohärenten Reihung – in der oben aufgezählten Folge: Lacan, Nasio, Aulagnier, R. Rodulfo und Sami-Ali. Mehr als ein solches 'Heranführen' anhand ausschnittartiger Fragestellungen verbietet sich, denn schon eine einführende und zusammenhängende Vorstellung Lacans allein würde den Umfang dieses Buches weit überschreiten (s. als solchen Versuch Widmer 1990). Auch bei der ausschnittartigen Vorstellung der genannten Autoren wird immer wieder auf das Problem der Psychosomatik 'fokussiert' werden, als klinische Konkretisierung der jeweiligen Ansätze und als thematische Achse der hier entwickelten Gesichtspunkte zu einem neuen psychoanalytischen Konzept des Körperlichen.
Leiser macht dem Leser bisher in der deutschsprachigen Rezeption vernachlässigte Ansätze von Autoren wie Nasio, Aulagnier, Rodulfo oder Sami-Ali zugänglich, anhand derer an ein neues Denken des Körper-Seele-Verhältnisses herangeführt wird.
Die klassischen Bilder der Neurose, wie sie Freud aufgezeigt hat, verlieren an Terrain und machen 'neuen Pathologien' Platz. Diese – oft im Umfeld der Sucht (z.B. Bulimie), der Allergien und der narzisstischen Störungen angesiedelt – verweisen auf das Verhältnis von Körper und Psyche. Leiser untersucht die Antworten aus anderen psychoanalytischen Kulturen aus dem französischen und iberoamerikanischen Sprachraum, die ein neues Denken des Körperlichen in Fortführung von Freuds Projekt anstreben. Dafür stehen Namen wie Nasio, Aulagnier, Rodulfo, Sami-Ali aber auch Lacan, der den Körper von der Psychoanalyse her neu gedacht hat. Von diesen Ansätzen sind im deutschsprachigen Raum teilweise nicht einmal die Namen der Autoren bekannt. Das Buch ist daher auch ein Plädoyer für die Öffnung des psychoanalytischen Horizonts auf uns bisher fremde psychoanalytische 'Welten' hin.
Autorenportrait
Eckart Leiser, Prof. Dr., ist Privatdozent an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte sind die epistemologischen Grundlagen der Psychologie, strukturale Anthropologie und Psychoanalyse. Er betreibt eine psychotherapeutische Praxis für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Zaragoza (Spanien).