Beschreibung
Seit längerer Zeit beschäftigt sich die Forschung zur Geschichte der frühen Neuzeit mit dem Konzept der „Praktiken“. In der Rechtsgeschichte ist dagegen meistens von „Rechtspraxis“ die Rede, nicht zuletzt, wenn es um die Erforschung des Reichskammergerichts geht. Vor diesem Hintergrund wirft der Beitrag die Frage auf, inwiefern die Überlegungen zu „Praktiken der frühen Neuzeit“ für die Rechtsgeschichte und insbesondere die Reichskammergerichtsforschung fruchtbar gemacht werden können. Untersucht wird dazu, welche Verhaltensmuster und Routinen den Alltag der Entscheidungsfindung am Reichskammergericht prägten. Aufschluss darüber geben privat angelegte Protokollbücher der Assessoren, in denen die fachlichen Diskussionen innerhalb eines Urteiler-Kollegiums oft detailliert geschildert werden. Der neueren Forschung sind Editionen solcher Quellen zu verdanken, die einen Blick hinter die Kulissen der Entscheidungen ermöglichen, was für Spruchkörper im Bereich der deutschen Rechtsgeschichte eine Seltenheit ist. Das Konzept der „Praktik“ scheint gerade auf den in den Protokollbüchern an verschiedenen Stellen beschriebenen „Brauch“ am Reichskammergericht anwendbar zu sein. Auf solche Entscheidungsroutinen beriefen sich die Assessoren in den Beratungen ausdrücklich. Exemplarisch werden diese analysiert, wobei der Bogen zu Problemen informell verfestigter Entscheidungsmuster in der aktuellen rechtspolitischen Diskussion gespannt wird. Hier sind „Praktiken“ vor allem bei der Strafzumessung zu beobachten, deren regional unterschiedliche Ausprägung auf eine Herausbildung eigener Normativität in strukturell gleichen, aber personell unterschiedlichen Institutionen hinweist.