Beschreibung
Von Sappho, der etwa um 630 v. Chr. geborenen und um 570 v. Chr. verstorbenen Dichterin, fehlen nicht nur verlässliche biografische Zeugnisse, auch die mit ihr assoziierten Mel?, die Anne Carson für If Not, Winter aus dem Altgriechischen ins Englische brachte, sind lediglich bruchstückhaft erhalten. In Carsons Übertragung der Sappho wird das vermeintlich Fehlerhaft-Fragmentarische von Leben und Werk sichtbar als poetischer Zugewinn, jeder Text ist mindestens so sehr vom Gesagten wie vom Unausgesprochenen durchwirkt: „Es ist die große Leistung von Anne Carson, dass sie der Leerstelle ihren Raum gelassen hat, dass man endlich vor dem Original einmal durchatmen darf und dass nicht alles zugeschmiert ist, wie das gerade in der deutschen Philologie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen ist“ (Thomas Kling) Christian Steinbacher begreift seine Übertragungen dementsprechend als „Weiterstimmen“, der Beschwörung der Leerstelle begegnet er im Rückgriff auf die literarische Tradition. In der strikten Anwendung des sapphischen Metrums formiert sich ein neuer Resonanzraum der sapphischen Dichtung, der nicht nur der Historizität der Fragmente, sondern auch dem Wesen der Lyrik geschuldet ist. Im Vergleich zwischen der englischen Übertragung des Originaltexts und Steinbachers Bearbeitung gerät dabei die unüberwindbare Distanz zwischen der sapphischen Geisteswelt und unserer Gegenwart in den Blick und damit auch die literaturgeschichtliche Überlieferung. Anstelle das Fragment in seiner Isoliertheit zu betrachten, adressiert Steinbachers poetisches Weiterstimmen das Systemische der sapphischen Dichtung.