Beschreibung
Hermann Lotze, der zu den bedeutendsten deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts zählt (und bis in die Zwanzigerjahre zu den meistdiskutierten gehörte), hat nicht nur den Neukantianismus und die Lebensphilosophie, sondern auch Husserls Phänomenologie und die frühe analytische Philosophie maßgeblich beeinflusst. Aufgrund seiner Doppelprofession als Philosoph und Mediziner steht Lotze im Zentrum der großen Transformationsbewegung im wissenschaftlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts, die die Abtrennung der Wissenschaften von der idealistischen Philosophie und die Bemühung einer kritisch reflektierten Philosophie um Annäherung an die Erfahrungswissenschaften mit sich brachte. Lotzes Einsicht, dass der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt der Natur steht, sondern "dislociert" ist, weist in das Zentrum seines großen Werkes Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit (1856). Von ihm selbst in eine Linie mit Herders Ideen und A. v. Humboldts Kosmos-Schrift gestellt, liefert Mikrokosmos schon vor dem Erscheinen von Darwins Origin of Species (1859) eine hellsichtige Kritik des neuen Materialismus und der anthropologischen Grundproblematik unserer Epoche. Gegen den analytischen Geist in den Wissenschaften und gegen die Rastlosigkeit ihres Fortschritts hält er an der Vorstellung fest, dass jede Weltbeschreibung der Selbstdeutung des Menschen angemessen sein muss. Mit dem Begriff der "Dislocirung" wird auf den Punkt gebracht, was noch knapp hundert Jahre später die philosophische Anthropologie beschäftigen wird: Die Stellung des Menschen in der Natur ist fragwürdig geworden, innerhalb des Gesamtprozesses vom Leben gibt es keine eindeutige Position mehr für den Menschen. "Mikrokosmos" war eines der meistgelesenen philosophischen Werke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In drei Bänden 1856, 1858 und 1864 erschienen, enthält es Lotzes systematische Überlegungen zum Menschen und seiner "Stellung im Kosmos", zur Metaphysik und Logik, zur Psychologie und zur Ästhetik, ist jedoch in einer Sprache verfasst, die sich keineswegs nur an ein akademisches Publikum richtet. Zu Lotzes 200. Geburtstag liegt es jetzt, mit einer neuen Einleitung von Nikolay Milkov, wieder vor.
Autorenportrait
Rudolph Herrmann Lotze wird 1817 in Bautzen geboren. Nach der Gymnasialzeit in Zittau studiert er ab 1834 Philosophie und Naturwissenschaften in Leipzig. Es folgen Habilitationen 1839 in Medizin und 1840 in Philosophie. 1844 tritt er die Nachfolge Herbarts in Göttingen an. Der Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie (erschienen 1856) versucht einen philosophischen Gesamtentwurf, mit dem Lotze den alten Dualismus zwischen den "Bedürfnissen des Gemüts" und den "Ergebnissen menschlicher Wissenschaft" überbrücken will. Dieses Werk macht ihn über seine Fachgrenzen hinaus bekannt und zu einem der meist diskutierten deutschen Philosophen bis zum 1. Weltkrieg. Vielfach als "Philosoph des Übergangs" betitelt, spiegelt seine Philosophie den Umbruch vom deutschen Idealismus in den historisch-naturwissenschaftlichen Realismus des 19. Jahrhunderts. Lotzes System der Philosophie erscheint 1874/79 in zwei Teilen zu je drei Büchern. Das Werk hat ausdrücklich nicht-dogmatischen Charakter und verteidigt die unreduzierbare Pluralität verschiedener Prinzipien, Methoden und Weltsichten. Besonders das dritte Buch Vom Erkennen wird zu einem Grundbuch der neukantianischen Tradition und beeinflußt den englischen Neuhegelianismus und amerikanischen Pragmatismus. 1880 folgt Lotze einem Ruf an die Berliner Universität und wird Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Doch bereits im Sommer 1881 stirbt er an einer Lungenentzündung.