Beschreibung
»Die Natur und die Geschichte bieten uns eine große Anzahl verschiedener Menschen, nicht aber eine Menschheit.« (Houston Stewart Chamberlain)
Es wird eine verzweigte Intellektuellen- und Ideengeschichte um 1900 aufgeschlagen. Der Sozialphilosoph – heute aber vor allem als Schwiegersohn Wagners, Bayreuther Ideologe und Vordenker Hitlers bekannte – Chamberlain pflegte intensive Beziehungen zu jüdischen Intellektuellen. Erstaunliche Konstellationen zwischen Rassentheorie, Kulturreform, Kunst und Wissenschaft werden in einer Zeit lebendig, in der sich antisemitische und zionistische Anschauungen konsolidierten, revolutionär Konservative auf avantgardistische Künstler trafen und sich reformbewegte Sonnenanbeter gleichzeitig links- und rechtspopulistisch orientierten.
Kritische Untersuchungen zu Chamberlain und Persönlichkeiten jüdischer Herkunft sind ein Desiderat. Die Analyse und Auswertung dieser unbekannten Korrespondenzen und Hintergründe zielen in den Kernbereich deutsch-jüdischer Forschung. Das Buch zeigt Chamberlain, der in der kulturellen Szene Wiens und Bayreuths zwischen 1890 und 1920 eine Schlüsselfigur darstellt, im feingeistigen Austausch mit jüdischen Intellektuellen wie Karl Kraus, Walther Rathenau, Maximilian Harden, Otto Weininger und Martin Buber.
Es werden ideologische Verschränkungen in der Moderne und daraus resultierende Verhaltensmuster herausragender Persönlichkeiten aufgedeckt, die in Bezug auf antisemitische Verkrümmungen und sogenannten jüdischen Selbsthass eine lange Vorgeschichte des »Dritten Reiches« belegen.
Kritische Stimmen zum Buch:
»Das Buch versucht mit einigen Missverständnissen aufzuräumen, die mit der Person und dem Werk Houston Stewart Chamberlains (1855–1927) zusammenhängen. Brömsel stellt insbesondere die Frage, wie Chamberlains Einlassungen zu Juden und Judentum aus heutiger Sicht zu bewerten sind und unterzieht sie einer differenzierten Betrachtung. Chamberlain war zweifellos jemand, der den Nährboden für die NS-Ideologie mit vorbereitet hat, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kulturphilosoph mehr war als nur der Steigbügelhalter Hitlers und seiner Entourage.
Sven Brömsel besticht mit seinem Buch nicht nur durch Klarheit der Gedankenführung, sondern erschließt auch wissenschaftliches Neuland. Die zum Teil erstmalig ausgewerteten Archivalien sowie andere Quellen sind die Basis für das Buch, das in vielerlei Hinsicht neue Maßstäbe setzt.« (Julius H.Schoeps)
»What is truly impressive about Brömsels work is the detail by which he fleshes out the meanings associated to the intellectual follow between Chamberlain and his Jewish contemporaries. Well documented From the public record as well as Form archival holdings, Brömsels presentation is scholarly and measured. He attempts to understand both the public relationship and the private meaning of such connections for both parties. [...] In general though his work is solid and comprehensive and will serve to answer recent studies, such as that of Paul Reitter on Kraus, which sees as liberating and self-critical exactly the sorts of positions that Brömsel sees as confused and self-damaging. I think that Brömsels work has made the case against Reitters (and others) position and will be taken very seriously in the work on Jewish identity formation in the late 19th and early 20th centuries.« (Sander L. Gilman)
Autorenportrait
Sven Brömsel ist Literaturwissenschaftler und Philosoph, er arbeitet über Ästhetizismus um 1900. Publikationen u.a. in SZ, NZZ, FAZ. Mitherausgeber der Erzählungen von Hanns Heinz Ewers, der »Renaissance« Walter Paters und eines Sammelbandes zu Walther Rathenau.
Rezension
Stefan Breuer: Gespaltenes Bewusstsein. Houston Stewart Chamberlain im Spiegel seiner Korrespondenz mit jüdischen Intellektuellen. [Rezension], in: Neue Zürcher Zeitung, 05. September 2015, Literatur und Kunst, S. 53