Beschreibung
Die Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert vollzog sich im Spannungsfeld zwischen der liberalen
Forderung nach Gleichberechtigung aller Bürger und der konservativen Auffassung, die Juden, die als
religiöse Minderheit am Rande der christlichen Gesellschaft lebten, müssten erst „erzogen“ werden, ehe
ihnen ein gesellschaftlicher Aufstieg zuteil werden dürfe. Doch auch innerhalb der jüdischen Bevölkerung
führte der Emanzipationsprozess zu erheblichen Konflikten zwischen dem traditionellen Judentum und
einer jüngeren Generation, die aus dem Ghetto hinausstrebte und bereitwillig die Chance zum sozialen
Aufstieg wahrnahm.
Wie die jüdische Minderheit diesen Konflikt bewältigte, schildert die Verfasserin in ihrer an der Universität
Gießen entstandenen Dissertation. Ausgehend von der Darstellung der rechtlichen, demographischen,
wirtschaftlichen und sozialen Situation der Juden im Königreich Westphalen behandelt die Verfasserin
zunächst die staatliche Judenpolitik, die im beginnenden 19. Jahrhundert die Erziehung der Juden zu
„nützlicheren“ Untertanen anstrebte. Wichtigstes Instrument dieser Erziehungspolitik sollte eine säkularisierte
und staatlich kontrollierte Schulerziehung sein. Diese Bildungspolitik stieß auf hartnäckigen
Widerstand bei orthodoxen Juden, die um ihre Identität besorgt waren und an der traditionellen Form des
Lernens und der religiösen Erziehung festhielten.
Die Autorin schildert, wie erste Reformversuche im Königreich Westphalen zwar scheiterten, doch in
kurhessischer Zeit ein beachtenswerter Prozess der Abstimmung staatlicher und jüdischer Interessen in
Gang kam. Reformwillige Juden wie Jacob Pinhas akzeptierten die Notwendigkeit einer Modernisierung
des jüdischen Schul- und Erziehungswesens, bestanden aber, um die jüdische Identität zu bewahren, auf
der Möglichkeit der Einrichtung eigener jüdischer Elementarschulen. So entstand im Zusammenspiel von
staatlichen und jüdischen Kräften bis zum Ende der kurhessischen Epoche 1866 ein nahezu
flächendeckendes Netz von jüdischen Elementarschulen. Kein anderer deutscher Staat konnte dies
vorweisen.