Beschreibung
Ungeachtet der krisenreproduzierenden Herrschaft in Europa und trotz der
Widersprüche, die diese Herrschaft immer wieder neu hervorbringt, wird durch die ›Hintertür‹ ein faktischer Neugründungsprozess der europäischen Integration
eingeleitet. Zunächst deutet alles darauf hin, dass er den progressiven, solidarisch
und demokratisch ausgerichteten »Neugründungs«-Aufrufen Europas diametral
entgegengesetzt ist: Die (fi nanz-)marktdisziplinären Elemente des europäischen
Wirtschaftsregierens sind weiter gestärkt und durch die prominente Rolle der europäischen Exekutivapparate, des Europäischen Rats, der Kommission und auch der
EZB, ist der technokratisch-autoritäre Charakter der politischen Verhandlungen und Entscheidungen gefestigt worden. Vor allem aber vollzog sich der Neugründungsprozess als ein ›von oben‹ initiierter Vorgang, ohne breite gesellschaftliche Diskussionen und ohne Beteiligung, zum Teil sogar gegen den massiven Widerstand der Volksmassen.
Diese diskrete Neugründung der Europäischen Union lässt sich – wiederum in
Anlehnung an Gramsci – als passive Revolution begreifen. Gramsci bezeichnet mit diesem Begriff gesellschaftliche Restrukturierungsprozesse, in denen die Herrschenden
auf »organische« oder »Hegemoniekrisen« in einer Weise antworten, die durch Transformation im Rahmen ›ihres‹ Herrschaftssystems ihre Macht erhalten soll. Ob der ehemalige Maoist und heutige Präsident der Europäischen Kommission, Manuel Barroso, an Gramsci gedacht hat, als er die Reformaktivitäten der EU als »stille Revolution« bezeichnete, sei dahingestellt. Im Kern zielen aber auch seine Überlegungen, wie die des europäischen Establishments insgesamt, auf inkrementelle Veränderungen im »Überbau«, d.h. in den nationalen und europäischen Staatsapparaten und den auf diese bezogenen Arenen zivilgesellschaftlicher
Kommunikation, ohne die Bedingungen der materiellen – finanzmarktdominierten
– Reproduktion zu hinterfragen.
Der sich faktisch vollziehende autoritäre und marktdisziplinäre Neugründungsprozess
generiert aber auch neue Widersprüche oder heizt ältere Konflikte zusätzlich an. Deuten diese Widersprüche und Konflikte Chancen für eine progressive Politisierung
der EU an? Bieten die durch den Finanzmarktkapitalismus und das europäische
Krisenmanagement genährten gesellschaftspolitischen Verteilungs- und Gestaltungskonflikte, die voranschreitende Delegitimierung der europäischen Institutionen und politischen Entscheidungsprozesse, der Aufschwung nationalistischer und rechtspopulistischer Kräfte in vielen Gesellschaften, die zunehmenden Spannungen zwischen den europäischen Kernstaaten und der besonders krisengeschüttelten Peripherie oder auch die intensivierten Konflikte innerhalb des Zentrums, etwa zwischen den großen Kernstaaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien den Nährboden, auf dem sich ein alternatives Projekt für Europa formieren kann?