Beschreibung
„Gerichtstheater“ war in der jungen Sowjetunion eines der populärsten Unterhaltungsgenres. Landesweit wurden kleine Broschüren mit Agitationsgerichten (Agitsudy) in Auflagen von teilweise bis zu 100'000 Exemplaren herausgegeben. Die Stücke gehören in den Bereich der Agitation und bilden die Grundlage für die enge Verbindung von Theater und Gericht, die bis heute in Russland zu beobachten ist. Die Stücke sind aber zum Teil auch sehr komisch, geradezu karnevalesk, wenn zum Beispiel Gott oder eine Mücke vor Gericht gestellt werden. Die drei hier ausgesuchten Agitgerichte stehen für unterschiedliche Phasen des Genres und zeigen, dass sich Theater und Gericht immer weniger voneinander unterscheiden lassen. Als das Genre in den 1930er Jahren verschwindet, wird es von einer theatralen Justiz, Laiengerichten und Schauprozessen regelrecht abgelöst. Die Stücke sind aber nicht nur relevant für die Überblendung von Theater und Justiz in der sowjetischen Gesellschaft, sondern auch für das Theater der 1920er Jahre. Sie bilden einen Kontrapunkt zu Brechts Lehrstücken, sind politisierter Ausdruck der Einbeziehung der Zuschauer, die immer mehr zu einer Illusion gerinnt. Auch Walter Benjamin, der als Zuschauer in das "Gericht über eine Kurpfuscherin" gerät, ist sich, wie man im Moskauer Tagebuch nachlesen kann, zunächst nicht ganz sicher, ob er im Theater oder in einer Gerichtsverhandlung sitzt. Aus dem Vorwort: Gerichtstheater war in der jungen Sowjetunion eines der populärsten Unterhaltungsgenres. Landesweit wurden kleine Broschüren mit Gerichtsstücken in Auflagen von teilweise bis zu 100.000 Exemplaren herausgegeben. Die erste uns bekannte Broschüre stammt von 1921, sie wurde in Kiev gedruckt und enthält ein nur elfseitiges, stichwortartig verfasstes Skript zur Inszenierung eines Gerichts über eine Aufklärungstruppe, die ihre Gefechtsaufgabe nicht erfüllt hat (Sud nad razvedkoj, nevypolnivšej boevogo zadanija). Das Gerichtsstück war für die Aufführung im Theater der Roten Armee während des russischen Bürgerkriegs vorgesehen. Ab 1923 wurden dann massenweise Gerichtsstücke herausgegeben, und allmählich setzte sich der Begriff ›Agitgericht‹ (agitacionnyj sud, kurz agitsud) als Bezeichnung für das neue Theatergenre durch. Die Broschüren mit den Agitgerichten waren hauptsächlich für die Intendanten der neu entstehenden Arbeiter- und Bauernklubs in den Städten oder Lesehütten auf dem Land vorgesehen, die mit der Organisation der Freizeitgestaltung und des Kultur- und Aufklärungsprogramms für die Arbeiter oder Bauern beauftragt waren. Wie der Name sagt, sollten die inszenierten Gerichtsprozesse agitatorisch wirken: Sie sind vor allem Lehrstücke, die die Massen emotional und rational von der sowjetischen Politik überzeugen sollen und deren literarischer, ästhetischer und künstlerischer Wert zweitrangig ist. Die Autoren sind keine Literaten, sondern Ärzte, Agronomen oder Komsomolsekretäre. Über die dramatische Verhandlung von ›Problemen‹ des nachrevolutionären Alltags – die in den Stücken letztlich immer auf ein Fehlverhalten bestimmter Personen zurückgeführt werden können – sollten die Prinzipien und Ordnungen der neuen sowjetischen Gesellschaft propagiert werden. In den Gerichtsstücken zeigt sich die typische Ambivalenz der postrevolutionären 1920er Jahre: Sie verstehen sich als fortschrittlich, wenden sich gegen medizinisches Unwissen, informieren über neue Gesetze, z.B. über die Legalisierung von Aborten, fordern eine bessere medizinische Versorgung auf dem Dorf, klären darüber auf, was sich hinter religiösen Ritualen verbirgt, setzen Wissen gegen Wunder und üben gleichzeitig Verhaltensnormen und Disziplinierungsformen ein, die den Übergang von Religion und Kommunismus, von Kapitalismus und Diktatur fließend machen. Dass man es mit einem Theaterstück und nicht etwa mit einem Gerichtsprotokoll zu tun hat, entdeckt man in den Broschüren teilweise erst auf den zweiten Blick, etwa im Untertitel Inscenirovka (Inszenierung, Schauspiel) oder P’esa (Theaterstück) oder in einer Inszenierungsanleitung im Vorwort. Aber nicht nur die Broschüren geben das ›Theater‹ nicht auf den ersten Blick preis. Auch für die Zuschauer der in Echtzeit inszenierten Gerichtsstücke war nicht immer klar, ob sie sich in einem ›echten‹, juristisch wirksamen Gerichtsprozess oder in einem nach Skript inszenierten, durch Laienschauspieler besetzen Theaterstück befinden. So gibt etwa Walter Benjamin, der 1926 per Zufall in ein Agitgericht in einem Moskauer Bauernklub geriet – mit höchster Wahrscheinlichkeit in das hier übersetzte Gericht über eine Kurpfuscherin – in seinem Moskauer Tagebucheintrag nicht zu erkennen, ob er das Bühnengeschehen als Gericht oder als Theater versteht. Heute liegen die Agitgericht-Skripte verstaubt und teilweise noch ungeöffnet in den Bibliotheken und Archiven der postsowjetischen Staaten. Nicht nur angesichts der großen Popularität der Agitgerichte in den 1920er Jahren – Zeitungsartikel und Berichte erzählen von überfüllten Sälen und zahlreichen Aufführungen – ist das erstaunlich, sondern auch aufgrund der historischen Bedeutung dieses Genres für die Herausbildung der Rechts- und Gerichtspraxis in der Sowjetunion. Unserer Beobachtung nach führt die von Beginn an in den Agitgerichten angelegte, höchst ambivalente Position zwischen Theater und Gericht an einen Punkt, an dem sich theatrale Justiz und Gerichtstheater nicht mehr voneinander unterscheiden lassen. Das agitatorische Gerichtstheater verschwindet Anfang der 1930er Jahre sang- und klanglos aus den Repertoires der Arbeiter- und Bauernklubs und wird von einer theatralen Justiz abgelöst.