Beschreibung
Das kulturelle Gedächtnis überliefert unter zahlreichen Denkbildern auch biblische Metaphern; selbst in der Profankultur leben sie fort. Signifikantes Beispiel sind Naturbilder aus dem 6. Kapitel des Matthäus-Evangeliums: es geht um die Vögel des Himmels, die Lilien im Feld und das Gras. Das ursprünglich eschatologische Gleichnis wird seit der Romantik neu gelesen: Der Motivkomplex erlaubt vielfache Metamorphosen, verweist auf Sinnelemente in der Natur, inspiriert zu Wunsch- oder Drohbildern, zu Zeitkritik wie zu Fluchtfantasien. Die Vögel des Himmels werden zu Chiffren für kreative Freiheit und die Eskapismen des Individuums, die Lilien des Feldes zum Sinnbild des Widerstreits von Ethik und Ästhetik, das Weltreich des Grases zu einem Symbol, das für Vitalität wie für Vanitas steht. So reaktiviert die Moderne, der es an tragfähigen Symbolen fehlt, die biblischen Denkbilder auf ihrer Suche nach Sinnpotentialen. Einer sich entschieden profanierenden Kultur mit ihrer Ethik konsequenter Weltlichkeit, die gleichwohl ihre Defizite ahnt, senden sie weiterhin ihre Impulse. Vögel des Himmels -: die Metapher lebt.
Autorenportrait
Horst Dieter Rauh, geb. 1940, Historiker, Germanist und Philosoph, promovierte bei dem Mediävisten Arno Borst über ein Thema der Geschichtsphilosophie. Bis 2005 Dozent an der Bischöflichen Akademie Aachen, dort Leiter des Fachbereichs Kunst und Kultur. Als Kulturwissenschaftler interessieren ihn besonders die parareligiösen Momente in der Profankultur. Studien zum Sinnproblem im 18. und 19. Jahrhundert, zur Naturästhetik, zum Phänomen des Epiphanen in Kunst und Literatur sowie zum Fortleben biblischer Denkbilder in der Moderne. Lebt als freier Autor in Aachen.