Beschreibung
Kein Ankerplatz, nirgendwo
Nachwort zu Ines Hagemeyer, Fragen im Schlepptau
Nomen est omen – der Titel ihres neuen Gedichtbands sagt schon viel: Fragen im Schlepptau. Ines Hagemeyer legt der Öffentlichkeit nach fünf Jahren neue Gedichte vor, die um alte Themen kreisen. Es sind die Fragen, die sie – und die meisten von uns – ein Leben lang nicht loslassen, die wie angekettet an uns hängen, die zu ihr gehören, manche als Last und manche als Schatz.
Es sind 8 mal 8 Gedichte, in denen es um Wahrheit und Wahrheiten geht, auch sie im Schlepptau eines langen Lebens. Schon das erste Gedicht („Gegenwelt“) wirft das Thema und die Forderung auf, sich der Tatsachen und Wahrheiten bewusst zu werden, denen wir ausgesetzt waren und immer noch sind in unserem Leben – Ines Hagemeyer nennt diese Vergangenheit „Gegenwelt“, dabei geht es auch um ihre ganz eigene Vergangenheit, die sie als Kind jüdischer Eltern erlitt: Fluchtartige Ausreise aus dem von Nationalsozialisten regierten Deutschen Reich gerade noch rechtzeitig vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Als Kleinkind verlässt sie mit ihren Eltern Berlin, fährt auf einem
Ozeandampfer nach Uruguay und wächst in Montevideo auf. Auch dort erlebt sie eine Gegenwelt, wenn auch eine rettende, und zu ihrer Muttersprache gewinnt sie die spanische Sprache hinzu. Sie verlor ihre Heimat, bevor diese ihre Heimat werden konnte. Und ihre neue Heimat wird sie auch wieder verlieren – sie liebt einen deutschen Mann, sie heiratet ihn und kehrt, nach einigen Jahren in Spanien, nach Deutschland zurück und lebt nun schon seit Jahrzehnten in Bonn, als Ehefrau und Mutter blickt sie auf ein erfülltes Familienleben zurück. Es bleiben aber unheilbare Wunden, es klingt in anderen Gedichten dieses Bandes an, dass sie im Grunde keine Heimat hat wie die meisten von uns. Ihre wahre Heimat ist die Sprache, die deutsche und die spanische, sie wohnt in der Sprache als Übersetzerin und vor allem wohnt sie in ihrer Sprache als Dichterin.
Das Gedicht „Absicht“ verurteilt die Verdrängung der deutschen Schuld nach dem Krieg: „Legendenteppiche für den Unrat ...“, die auch heute wieder verstärkt geknüpft werden. In „Eintrag“ heißt es: „heute herrscht der Tod | während das Leben | unter einer dicken Ascheschicht | kaum noch glimmt“ (nach Abraham Lewin, Warschauer Ghetto 1941). Sie denkt – in „Exildichter“ – an die vielen Künstler, Schriftsteller, Musiker im Exil, die ihre Karrieren verloren, die nach dem Krieg in Deutschland so gut wie vergessen wurden (etwa Erich Wolfgang Korngold).
Die Balance von Last und Segen der Erinnerungen wird deutlich in dem Gedicht „Tetralogie“, wo von einem Lebenskreislauf die Rede ist, in „Fata Morgana“ wird das Trügerische der Erinnerungen angesprochen – und in einem anderen Gedicht folgt dafür ein Beispiel: wie sich das kleine Mädchen wie Effi Briest auf der Schaukel hoch hinauf schwang über die Bäume und sich ein „Leben über den Kronen“ erfand („früher II“). Dies sind – wie in vielen folgenden Gedichten – Verse, die nicht nur die eigenen biografischen Wurzeln widerspiegeln, sondern allgemeingültig sind.
Es gibt funkelnde und schmerzende Lebenssplitter in jedem Menschenleben. Natürlich erleidet der eine mehr, der andere weniger. So auch in der Liebe. „in der Erinnerung bleiben | wird dein Blick | verloren in der Dämmerung“ („Oktober“). Oder „jenseits der Worte | lauert die Stille ... lass dir Zeit“ („nur“). Dann wieder die schmerzende Erinnerung: „mit der Muschel am Ohr | hör ich ein fernes Rauschen“ („Täuschung“) – es bleibt offen, ob es das Rauschen aus Europa ist oder aus Südamerika, beide Kontinente stehen für die Sehnsucht nach echter Heimat.
In der Mitte des Bandes stehen Gedichte, die mit dem Schreiben zu tun haben, mit der schöpferischen Arbeit. „geh ans Ufer deiner Wünsche | fisch dir eine Utopie“, heißt es in dem Gedicht „geh“ – eine Gedankenexkursion in eine positive Gegenwelt. Aber Ines Hagemeyer will auch Verse wie scharfe Splitter – und die sollen „das Auge schärfen für | diese Abgründe der Seele“ (Introspektion III).
„der Gesang der Amsel | lädt mich mit ihrem Ruf | zum Diktat ein“ („im Garten“). Die Natur als Meisterin?
Das Gedicht „späte Replik“ spielt an auf Hölderlins Gedicht „An die jungen Dichter“:
Lieben Brüder! es reift unsere Kunst vielleicht,
Da, dem Jünglinge gleich, lange sie schon gegärt,
Bald zur Stille der Schönheit;
Seid nur fromm, wie der Grieche war!
Liebt die Götter und denkt freundlich der Sterblichen!
Haßt den Rausch, wie den Frost! lehrt, und beschreibet nicht!
Wenn der Meister euch ängstigt,
Fragt die große Natur um Rat.
Ines Hagemeyer stellt fest, dass sie nicht mehr zu den jungen Dichtern gehört und hofft, „gereift zu sein“, dass auch kein Meister sie ängstigt. Nicht die Stille der Schönheit, sondern die Schönheit der Stille zog sie zu Hölderlins Dichtung hin. Rätselvoll ist ihr Gedichtschluss:
& nun frag ich oft die Natur
nach dem gewaltigen Rest
Spielt das auf eine transzendente Zeit an? Oder klingt hier Kritik durch? Es ist die Frage, ob die Natur der größte Meister ist – angesichts der grausamen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Schließlich ist ja der Mensch Teil der Natur. Die Dichterin will die „Geheimnisse der Stille“, so an anderer Stelle in diesem Band, in Sprache verwandeln.
Ein letztes Thema: Bilanz und Lebensvollendung. Ines Hagemeyer spricht in „Bilanz II“ von der Waagschale für so manche Frucht ihres oder auch unseres Lebens. Über das was nach dem Leben kommt, heißt es in dem Gedicht „Unbehagen“ lakonisch: „unheilvolles Land | aus dem niemand wiederkehrt | gibt uns Rätsel auf | bringt uns aber nicht weiter“ und das Gedicht „Vorhaben“ greift in diesem transzendenten Zusammenhang den Gedanken der Heimatsuche wieder auf: „ich suche noch eine Unterkunft | aus verwobenem Licht | mit Wänden aus Traum | & Erinnerung“ – solche Verse sind, aufs Leben bezogen, ernst gemeint.
Die Gedichte gewinnen im gesamten Kontext an Kraft, sie verstärken sich gegenseitig. Sie sind in kurzen Versen formuliert, die Gedanken und Bilder erscheinen für sich genommen einfach, sie fächern sich, bezogen auf die angespielten Subtexte, subtil auf und werden so ziemlich komplex. Trotz der Mehrdeutigkeiten im Einzelnen sind es recht klare, schnörkellose Gedichte, die in die Tiefe wirken, in die Tiefe eines Menschenlebens wie in die Tiefen der Seele und der Geschichte.
Das Ich in Ines Hagemeyers Gedichten findet keine Heimat, schon gar nicht im Tod, nur in der Sprache findet es ein Exil, allerdings sind immer „erneut Fragen im Schlepptau“ („El reexilio“). Und doch schreibt die Dichterin ein versöhnliches Resumee im letzten Gedicht („gestern“): „die Welt | wie sie sich zeigte | lag in Schutt & Asche | doch dann sah ich | eine Feldblume | sich vor mir öffnen“. Und in einem der schönsten Gedichte dieses Bandes („Nachlese“) steht nüchtern und zugleich hoffend: „im Staubland jedoch | treibst du den Anker | bereit für einen Hafen | der nicht untergeht“.
Ulrich Bergmann