Beschreibung
Die Tradition des Exemplums, des Erzählens in Beispielen, war bereits in der Antike als Argumentationstechnik in der Gerichtsrede verbreitet; später war sie als Mittel mahnender moralischer Belehrung Ausdruck einer metaphysisch garantierten Ordnung der Wirklichkeit. Im Gegensatz zu Studien, die sich mit den antiken oder mittelalterlichen Traditionsausbildungen befassen, geht der vorliegende Sammelband jedoch nicht davon aus, daß das Erzählen in Exempeln mit dem Aufkommen des Skeptizismus und mit der Relativierung eindeutiger Normsetzungen in der Neuzeit seine Bedeutung verlor. Mit dem Verlust persuasiver Funktionen und der Thematisierung der Fragwürdigkeit des Versuchs, die Wirklichkeit im Exemplum auf »einen« verbindlichen Sinn zu reduzieren, übernahm das literarische Exemplum neue Funktionen, die seinen traditionellen Merkmalsbestimmungen völlig zu widersprechen schienen. Es ist aber gerade der Übergang des Exemplums von einem Diskurs der Eindeutigkeit zu einem Diskurs der Unbestimmtheit, der seine Einbindung in immer neue Funktionszusammenhänge bis in die Gegenwart und somit auch die Weiterführung der Tradition exemplarischen Erzählens ermöglichte. Wenn das Exemplum etwa in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts zu einem Textelement wird, das den ihn umfassenden Text nicht mehr deutend erschließt, sondern vielmehr das Problem der Deutbarkeit von Texten im Prozeß des Erzählens gestaltet, so gewinnt es gerade dadurch seine Bedeutung als Ausdruck eines spezifisch modernen Wirklichkeitsverständnisses.
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