Beschreibung
Mord auf offener Straße. David Schnaiderman verliert sein Gedächtnis, muss seine Identität (re)konstruieren. Ausgangspunkt seiner Suche ist jener mythische Großvater, der aus dem russisch-polnischen Grenzgebiet vor Pogromen nach Argentinien flüchtete. Wie alle Entwurzelten will er sein Erbe als ashkenasischer Jude mit den Impulsen seiner Wahlheimat in Einklang bringen. Der Überlebenskampf der 1930er Jahre bis hin zu Davids Erinnerungen an seine Jugend in von Einwanderern geprägten Vierteln sowie seine aktuellen Recherchen schließen weitere Lücken. Der Struktur des Romans ? starker Baum mit Wurzeln, Stamm und Ästen, polyphoner Stimmenchor, unterschiedliche Textformen und Sprachebenen ? entspricht die tiefe Verunsicherung der Hauptperson ebenso wie das Streben, zu einem zukunftsträchtigen Selbstverständnis jüdischer Existenz im mestizischen Amerika zu gelangen, ein Ziel, das am Ende in greifbare Nähe rückt. Dem Leser eröffnet sich eine bislang kaum bekannte Facette jüdischen Lebens in einem scheinbar weit entfernten Winkel unseres Globus, wobei die den Text bewegenden Fragen in einer von Migrationen und Vertreibungen geprägten Welt keineswegs exotisch sind. Es handelt sich um einen beeindruckenden und ungewöhnlichen Roman. Trotz der Vielfalt der Ereignisse, der Themen und inhaltlichen Verquickungen stimmen die Gesamtkomposition wie auch die Details der Handlung. Dem Leser geht der Überblick nie verloren, er folgt mit nicht nachlassender Spannung allen Recherchen und Entwicklungen, die durch den Protagonisten, David Schnaiderman, gebündelt werden. Alle Figuren sind lebensprall, sind Charaktere mit ausgeprägter psychischer Differenziertheit. In aller Dramatik und Zuspitzung leibt das Geschehen absolut glaubwürdig. Dem deutschen Leser stellt sich nach der Lektüre unwillkürlich die Frage, warum es hierzulande keine vergleichbare Beschäftigung mit der Frage nach der jüdischen Identität vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte gibt und ob dieses Faktum allein dem Holocaust geschuldet ist oder etwas mit Anpassung bzw zu großer Anpassung zu tun hat. Aber vielleicht ist man einfach noch nicht so weit, an Tabuisierungen zu rühren, wie es Ricardo Feierstein in seinem Land getan hat.
Autorenportrait
Ricardo Feierstein, * 1942 in Buenos Aires als Sohn eines russischen Einwanderers und einer bereits in Argentinien geborenen ashkenasischen Mutter, hat zahlreiche Erzählungen, Romane, Gedichte und Essays verfasst und gehört zu den Autoren, die sich immer wieder mit dem lateinamerikanischen Judentum beschäftigen. Sein Roman ?Mestizo ? Der Weg des David Schnaiderman? ist eines der zentralen Werke auf diesem Gebiet und zugleich Ausdruck einer äußerst produktiven, hierzulande weitgehend unbekannten Literatur. Seine Arbeit in der Kulturabteilung der Jüdischen Gemeinde von Buenos Aires und die als Leiter des Verlags Milá hat Feierstein zu einer zentralen Figur des jüdischen Geisteslebens in Argentinien gemacht. Dr. Reiner Kornberger, * 1949 in Mayen/Eifel, seit 1976Spanisch- und Französisch-Lehrer an einem Bremer Gymnasium, hat zahlreiche Arbeiten auf dem Gebiet der Fachdidaktik des Spanischen, Rezensionen und Aufsätze in diversen Zeitschriften und Sammelbänden publiziert. Sein Spezialgebiet ist die Literatur des südlichen Amerikas (Argentinien, Chile, Paraguay, Uruguay), worauf sich auch überwiegend seine Tätigkeit als Übersetzer bezieht.