Beschreibung
Warum hat sich die Dur-Moll-Tonalität in der Form entwickelt, wie sie für die abendländische Musik der Neuzeit maßgeblich war? Ist sie das Ergebnis einer notwendigen Entwicklung, die in den „natürlichen“ Grundlagen bereits von vornherein angelegt war (wie viele Theoretiker glauben)? Oder ist sie vielmehr auf der Grundlage bestimmter geistes- und kunstgeschichtlicher Voraussetzungen entstanden, wie sie nur für das christliche Abendland gegeben waren, während in außereuropäischen Kulturen ganz unterschiedliche musikalische Systeme entstehen konnten? Mit Hilfe der Erkenntnisse der modernen Akustik, Gehörforschung und Musikpsychologie sowie auf der Basis einer umfassenden historischen Untersuchung werden die Entstehungsbedingungen für die harmonische Tonalität benannt und nachgezeichnet. Platonisch-pythagoreischer Harmonikalismus, synästhetisches Empfinden sowie der aus der humanistischen Grundhaltung und dem Renaissancegedanken hervorgehende mimetische Anspruch der Künste führten in der frühen Neuzeit zu einer musikalischen, die menschlichen Affekte „abbildenden“ Figurensprache, die sich ab ca. 1600 als Opernmonodie auf der Grundlage der Generalbaßbegleitung etablierte und welche die Entstehung der harmonischen Funktionalität entscheidend vorantrieb. Ein Modell des Tonraumes veranschaulicht auf gestaltpsychologischer Ebene, wie die akkordisch fortschreitende Mehrstimmigkeit es ermöglicht, Zusammenklänge „perspektivisch“ zu nutzen: Durch die geregelte Abfolge von Akkorden als plastisch-gestalthaft erfahrbaren Einheiten kann insbesondere die Dur-Moll-tonale Musik klangliche Figuren zu einem gemeinsamen „Fluchtpunkt“ hin (der Tonika) tonräumlich zentrieren. Die Entstehung des neuzeitlichen Tonsystems kann demnach auch im gestalttheoretischen Sinne als Entstehung einer musikalischen Form von Perspektivenlehre begriffen werden, die analog zur malerischen Perspektive und zur perspektivierten Theaterbühne das dominierende Paradigma für die neuzeitliche Musik ist.