Beschreibung
Ja, der alte Musikmeister! Christian Valentin hieß er. Zuweilen in der Dämmerstunde, wenn ich vor meinem Ofenfeuer träume, wandelt auch seine hagere Gestalt in dem abgetragenen schwarzen Tuchröckchen an mir vorüber; und wenn er dann gleich all dem andern Besuch, den ich schweigend und ungesehen hier empfange, allmählich wieder meinem Blick entschwindet, zurückwandelnd in den dichten Nebel, aus dem er kurz zuvor emporgetaucht ist, so zittert oft etwas in meinem Herzen, als müßte ich die Arme nach ihm ausstrecken, um ihn zu halten und ihm ein Wort der Liebe auf seinem einsamen Wege mitzugeben. In einer norddeutschen Stadt hatten wir beide mehrere Jahre nebeneinander gelebt, und der kleine Mann mit dem dürftigen blonden Haar und den blaßblauen Augen war ebensooft gesehen als unbeachtet an mir vorübergegangen, bis ich eines Tages in dem Laden eines Antiquars mit ihm zusammentraf. Von diesem Augenblick an begann unsere Bekanntschaft; wir waren beide Büchersammler, wenn auch jeder in seiner eigenen Art. Bei meinem Eintritt hatte ich eine illustrierte Ausgabe von Hauffs 'Lichtenstein' in seiner Hand bemerkt, worin er, am Ladentische lehnend, sich mit Behagen zu vertiefen schien. 'Das ist ein liebes Buch, das Sie da haben', sagte ich gleichsam als Erwiderung seines Grußes, mit dem er trotz seines eifrigen Blätterns mich empfangen hatte.
Autorenportrait
Hans Theodor Woldsen Storm ( 14. September 1817 in Husum, Herzogtum Schleswig; gestorben 4. Juli 1888 in Hanerau-Hademarschen) war ein deutscher Schriftsteller. Mit seiner Lyrik und Prosa gehört er zu den bedeutendsten Vertretern des Poetischen Realismus. Storm ist vor allem für seine Novellen bekannt, empfand sich allerdings in erster Linie als Lyriker und sah die Gedichte als Ursprung seiner Erzählungen. Für ihn war das Erlebnis das Fundament seiner Gedichte, während er der Gedankenlyrik fernstand. Einige Verse und Novellen richten sich gegen den Adel und kritisieren die Beamtenhierarchie sowie die Verbindung weltlicher und geistlicher Kräfte. Neben den frühen lyrisch-stimmungsbetonten Werken wie Immensee und Angelica finden sich in der Novellistik seiner mittleren und späten Jahre weitere Themen und Impulse. Zu ihnen gehören religions- und sozialkritische Ideen wie in Veronica, Im Schloß oder Ein Doppelgänger. Mit Kunstmärchen und unheimlichen Novellen wie Draußen im Heidedorf und Renate, Eekenhof und schließlich Der Schimmelreiter steht sein Werk in einem Spannungsverhältnis zu Vorgaben des Realismus.