Beschreibung
Was sind die Ursachen von Armut? Wer ist schuld an Armut? Wer hat wann welches Risiko zu verarmen? Wie lässt sich Armut beheben oder, besser noch, künftig verhindern? Gibt es geschlechtsspezifische Armutsrisiken?
Um diese und ähnliche Fragen kreisen seit dem späten 18. und mittleren 19. Jahrhundert intensive Kontroversen, die die Wahrnehmung von Armut im deutschsprachigen Raum prägen. In der Sattelzeit (1750–1850) bilden sich, so der Ansatz dieser Studie, spezifische, den Armutsdiskurs strukturierende Armutsnarrative heraus. In besonderer Weise partizipiert die Literatur an diesem Diskurs, indem sie die Armutsnarrative aufgreift, vorführt, hinterfragt und in manchen Fällen subvertiert.
Unter Einbeziehung wichtiger theoretischer und literarischer Schlüsseltexte – u.a. Sophie von La Roches Rosaliens Briefe (1779–81), John McFarlans und Christian Garves Untersuchungen über die Armuth (1782/85), Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785–90), Joseph Marie de Gérandos und Franz Joseph Buß‘ System der Armenpflege (1839/1843–46) und Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (1854/55) – argumentiert die Arbeit, dass die Deutung von Armut stets gendercodiert und unter Bezugnahme auf kulturell und historisch spezifische Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen erfolgt. Dabei wird erstmalig aus literaturwissenschaftlicher Perspektive herausgearbeitet, wie Armuts- und Männlichkeitskonstruktionen intersektional mit dem um 1800 einsetzenden Risikodenken verwoben sind und wie sich diese Verschränkung in Identitätsromanen der Sattelzeit darstellt.