Beschreibung
Zahlreiche Menschen jüdischen Glaubens lebten vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1942 in der Kaiserstraße 13, der heutigen Goethestraße 13 in Kassels Stadtteil Voderer Westen. Darunter waren Menschen, die aus alteingesessenen und mitunter prominenten Kasseler Familien stammten, aber auch solche, die vom Land vertrieben und in das Haus eingewiesen worden waren. Unter den jüdischen Bewohnern des Hauses 13 gab es 30 Opfer des nationalsozialistischen Völkmordes an den Juden.
Rezension
Die Forschungen zur jüngeren Geschichte des Kasseler Judentums stehen trotz der verdienstvollen Studien von Wolfgang Prinz noch immer in den Anfängen. Insbesondere
ist die Geschichte mancher ihrer herausragenden Persönlichkeiten und Familien noch zu
schreiben. Wolfgang Matthäus war Geschichtslehrer in Kassel und befasst sich seit Jahrzehnten mit Leben und Werk zahlreicher jüdischer Kasseler Familien. Ausgangspunkt war ein von ihm mit Schülern gemeinsam durchgeführtes Projekt zu den Biographien ehemaliger jüdischer Schülerinnen ("Als jüdische Schülerin entlassen", Kassel 1987) der Meysenbugschule, die seit 1940(!), bis zum heutigen Tage nicht revidiert, Heinrich-Schütz-Schule heißt. Auch von dort führten einige Schülerinnen-Lebenswege in das Haus Kaiserstraße 13.
Das im bürgerlichen Vorderen Westen der Stadt gelegene Haus war Mitte der 1920er-
Jahre aus eigenem Entschluss von der prominenten Familie Fiorino erworben worden. In
den folgenden Jahren wohnten dort zahlreiche jüdische Familien, bis dann ab 1940 viele um ihr Eigentum bzw. ihre Wohnung gebrachte Juden in und um Kassel auf staatspolizeiliche Veranlassung hin vorübergehend in diesem Haus unterzubringen waren. Die meisten von
ihnen konnten der Deportation und dem Tod in den Lagern im Osten nicht mehr entkommen.
Gelang einigen Familien aus der Kaiserstraße 13 nach unendlichen Anstrengungen
doch noch rechtzeitig die Flucht ins Ausland, standen sie, zum Teil bis dahin wohlhabend,
in der Emigration über Nachtvor dem Nichts. Die Frau des Rechtsanwalts Dr. Moritz Stern
in St. Louis hatte z. B. im eigenen Haus Schokolade herzustellen, um das Einkommen aufzubessern.
Vom NS-Staat Hab und Gut der Auswanderung beraubt musste sich der Unternehmer Louis Löwenstein aus Felsberg als Brauereiarbeiter verdingen.
Matthäus hat umfassend und sorgfältig zu den Lebens- und Leidenswegen der Familien recherchiert. In fast allen Fällen gelang es ihm, die berufliche Tätigkeit und Wirksamkeit Einzelner knapp darstellen zu können. Dabei werden die stadt- und regionalgeschichtiichen Forschungen zur NS-Geschichte aufgegriffen und gut einbezogen. Auch allgemeine historische Bezüge (NS-Politik gegen Juden) werden hergestellt. Dadurch, dass der Autor den Blick auf den Mikrokosmos der Bewohner eines Hauses und deren Lebensgeschichte richtet, schließt er an die Studien von Worgang Prinz an, die er nun biographisch bzw.
familiengeschichtlich erweitert und vertieft. Ohne, dass dies in der Studie besonders hervorgehoben wird, sehe ich in der Kaiserstraße 13 auch Streiflichter auf die bewegten Lebenswege vertriebener Menschen geworfen. Das Buch enthält zahlreiche äußerstwertvolle und andernorts kaum mehr erreichbare Informationen zum Kasseler Judentum. Künftige Studien und Forschungen werden daran nicht vorbeigehen können.
von Dietfrid Krause-Vilmar