Beschreibung
Da war also dieser amerikanische Autor mit dem nicht nur Deutsch klingenden, sondern auch Deutsch geschriebenen Namen: Vollmann. William T. Vollmann – wobei mich das T mit dem Punkt nicht weiter interessieren muss: eine amerikanische Marotte.
Und da war Alexander Simon, der Agent. Kein Geheim-, sondern nur ein literarischer Agent, aber solche Leute können einem Autor helfen, an einen Verlag zu kommen – nicht immer, und Simon hatte sich jahrelang darum bemüht, vergeblich bemüht, für meine SPEEDY einen Verlag zu finden. Und also fragte ich ihn, ob er noch einen anderen Autor vertritt, bei dem es ihm vergleichbar schwer fiel, für ihn einen Verlag zu finden. Und Simon nannte mir den Namen Vollmann. Der jedoch gerade einen dicken Roman beim Suhrkamp-Verlag veröffentlicht hatte, Europe Central, ein auch mich dann beeindruckendes Buch. Aber wie lange hatte das gedauert, Jahre, und dieser Vollmann, er war doch schon vorsortiert, er veröffentlichte in den USA ein Buch nach dem anderen, er hatte alle möglichen Preise eingeheimst, und er hatte diesen Fanclub in Amerika, der der Meinung war, Mr. Vollmann hätte doch mal langsam den Nobelpreis für Literatur verdient – na, solche Leute sind mir doch eher suspekt.
Und Vollmann, so erzählte es mir Simon, hatte in allen möglichen odd Jobs gearbeitet, auch bei einer Versicherungsgesellschaft, und das machte ihn mir schon mal sympathisch, da ich doch auch seltsame Dinge in meinem Leben getan hatte, seltsam nach den Maßstäben des Literaturbetriebs: Elektriker Reinigungskraft, Verfassungsrichter, Berater im Bundestag. Und Vollmann hatte mit Reportagen begonnen, er war ein Abenteurer, er hatte Reportagen über Afghanistan, Kambodscha, Somalia, Irak geschrieben, und auch das musste mir gefallen, wenn da ein Autor noch ein anderes Leben hat, eines außerhalb des nur Literatur produzierenden Gewerbes. Vollmann hatte eine Reportage über Prostituierte in New Orleans geschrieben und dabei bemerkt, viele von ihnen sind Transvestiten, und sich dann gedacht, das könnte ich doch auch mal probieren, um mich besser in diese Menschen hineindenken zu können, er hatte sich eine weibliche Identität geschaffen: Dolores. Simon zeigte mir das Buch, mit Fotos von sich als Dolores, dass Vollmann veröffentlicht hatte: ein Mann, der keine Chance hat, jemals als Frau durchzugehen – noch etwas, um mich mit ihm verbunden zu fühlen.
Freunde & Friends – ein Verlag, der die Bücher herausbringen will, mit denen sich andere Verlage schwertun, entweder, weil sie ihnen zu aufwendig sind, zu teuer, zu wenig Gewinn versprechen, oder weil sie zu feige dafür sind, Ärger vermeiden, lieber auf Nummer Sicher gehen wollen.
Gegründet im September 2022. Natürlich ein mäzenatisches Unternehmen, anders geht's gar nicht. Anders sind auch die Vollmann-Wälzer gar nicht herauszubringen. Ich bin nicht der, der das nötige Geld vorlegt, ich bin der, der es ausgibt, der Leiter des Verlages. Und also frage ich Simon, von welchem Buch von Vollmann, von dem es noch keine deutsche Ausgabe beim Suhrkamp-Verlag gibt, sollte es eine geben. Seine Antwort: Carbon Ideologies. In der amerikanischen Ausgabe zwei dicke Bände, für das Schwergewicht Suhrkamp ein zu schwerer Brocken. Gut, Freunde & Friends übernimmt. Was ist das für ein Buch? Ein langer Essay, Reportagen, ein Bisschen auch so etwas wie ein Sachbuch. Vollmann sucht Orte auf, die mit der Förderung von Kohle und Erdöl verbunden sind, er berichtet von den Menschen, die dort leben, versucht ihre Denkweise zu verstehen. Ein wichtiges Thema. Auch der Bericht über mehrere Besuche von Vollmann in der Sperrzone von Fukushima.
Freunde & Friends übernimmt.
Wir nennen das Buch Ideologien des Brennstoffzeitalters, das ist im deutschen Zusammenhang vielleicht verständlicher. Allein die Einführung ist über 200 Seiten lang. Also machen wir daraus einen eigenen Band. Aus den zwei Bänden der amerikanischen Originalausgabe werden bei Freunde & Friends drei Bände. In der Ausgabe von Viking, dem amerikanischen Verlag von Vollmann, überzeugen uns Typographie, Layout und Cover nicht. Eine Herausforderung auch die Fotos, von Vollmann während seiner Reisen aufgenommen. In der Originalausgabe so platziert, dass man sie kaum ansieht. Die meisten Fotos übersieht man einfach, weil man mit dem Lesen beschäftigt ist.
Beim Lesen, da geht die Bewegungsrichtung immer von links nach rechts und springt dann auf die nächste Zeile, und wieder geht es von links nach rechts. Ein Bild ansehen, auch Fotos also, da hält der Blick inne, er konzentriert sich, er begibt sich in das Bild hinein und bewegt sich dann in ihm, den Linien und ihren Richtungen folgend zu den Details. Und deshalb sind Bilder und Fotos in einem Buch zum Lesen so schwer zu platzieren. Der Leser muss sich aufgefordert fühlen, zum Betrachter zu werden, bevor er dann weiterliest. Es muss einen Augenblick des Innehaltens geben.
Was also mit den Fotos im Buch von Vollmann machen? Ihre Anzahl auf ein paar wenige reduzieren, sie so, zum Beispiel jeweils vor dem Beginn eines Kapitels platzieren, dann eine ganze Seite füllend, für den Leser ein Augenblick des Innehaltens? Wir glaubten erst, dies wäre der Weg, den wir einschlagen sollten. Dann das Problem der technischen Qualität der Fotos: liegt's am Papier? Sicher liegt es auch am Papier. Wir werden sehr viel besseres Papier verwenden als der amerikanische Verlag. Papier von Fedrigoni, diese italienische Firma, mit der wir uns verbunden haben. Liegt’s an den Druckvorlagen, an der geringen technischen Qualität der Fotodateien? Oder an den Fotoaufnahmen von Vollmann selber? Vollmann fotografiert, aber er ist kein professioneller Fotograf. Er ist ein Amateur, ein Knipser, der während seiner Reportagen Fotos macht, vielleicht nur als Erinnerungsstützen.
Und dann bekamen wir, via Simon, einen Stick aus Sacramento, California, USA, von Vollmann. Mit den Fotodateien. Robert Haselbach, unser Designer und einiges mehr, ohne den Freunde & Friends nicht so gute Bücher machen könnte, steckte den Stick in unseren Computer, er fand mehrere Datei-Ordner. Er schaute sich die ersten Fotos daraufhin an, ob sie überhaupt als Druckvorlagen etwas taugen. Gut. Sie schienen technisch gut genug. Große Erleichterung. Dann aber: Es waren das sehr viel mehr Fotos auf diesem Stick als es sie in den beiden Bänden der Carbon Ideologies gab. Insgesamt mehr als 3000 Stück. Alle die Fotos, die Vollmann bei seinen Recherche-Reisen für das Projekt gemacht hatte. Wir gingen alle Ordner durch, versuchten uns einen Überblick zu verschaffen. Und dann?
Wir staunen nicht schlecht. Wir staunen immer mehr. Wirklich erstaunlich gute Fotos. Dieser Mann, Vollmann, hat ein Auge. Sagt man so. Man weiß dann schon, was damit gemeint ist. Auch das: dass dem, der so ein Auge hat, gar nicht bewusst sein muss, ein Auge zu haben. Diesen Blick. Diesen Sinn für die Bildkomposition. Ein Gefühl für das Optische, das zum Interesse für das Motiv hinzukommt. Besonders erstaunlich bei jemanden, der auf Reisen ist, der eine Recherche betreibt, mit vielen Menschen redet, sich Notizen macht und dann mal eben auch noch ein Foto. Spontan, wahrscheinlich ohne die Zeit dazu zu haben, da ein gutes Foto hinkriegen zu wollen. Wahrscheinlich nebenbei aufgenommen, auf die Schnelle, und genau dabei zeigt es sich dann, diese Begabung, der Blick, das Auge.
Aber es ist das mehr als nur eine ganze Menge Fotos, guter Fotos, starker Fotos. Es ist dann eine ganze Welt, die sich für den Betrachter der Fotos auftut. Die Welt von Vollmann. Die von uns selber, auch wenn wir sie selbst nicht gesehen, sie nicht aufgesucht haben, vielleicht vor ihr eher die Augen verschließen wollten. Aber was ist das für eine Welt? Eine Welt, bei deren Betrachtung sich die Frage aufdrängt: Was für eine Welt haben wir uns da geschaffen und zugelassen? In was für einer Welt leben wir, müssen wir leben, überleben? Und dann diese Gesichter, diese Menschen, Täter und Opfer, Schuldige und Mitschuldige, wie sie uns ansehen. Alles Menschen. Fast so etwas wie die Family of Men, die von dem Fotografen Edward Streichen in den 50er Jahren im New Yorker Museum of Modern Art zusammengebracht wurde. Und Vollmann hat sie alle getroffen. Gesehen. Und dann fotografiert.
Wir ahnen bald: Wir müssen mehr aus diesen Fotos machen. Sie sind zu gut. Sie brauchen ihren eigenen Band. Man muss sie ungestört von einem Text betrachten können. Es lohnt sich. Dann sind Entscheidungen zu treffen: Hoch- oder Breitformat? Breitformat, auch wenn es uns vor die Herausforderung stellt, wie ein Foto-Buch mit den drei Text-Bänden zusammenbekommen. Wie die Themenbereiche, die Orte auch, an denen Vollmann fotografiert hat, in eine Reihenfolge bringen? Welche der Fotos auswählen? Wie sie in den Kapiteln, die sich ergeben, hintereinander anordnen? Und am Schluss die Doppelseiten: welche zwei Fotos jeweils miteinander zusammenbringen, so, dass sie sich gegenüberstehen, sich ergänzen oder einen Kontrast bilden? Und während wir uns mit all diesen Fragen beschäftigen, entdecken wir immer wieder neue Fotos. Fotos, die wir bisher übersehen hatten. Fotos, die aber dennoch unbedingt mit ins Buch sollten. Dann das Cover, der Umschlag, der das Foto-Buch zu einem Teil des vierbändigen Konvoluts der Ideologien des Brennstoffzeitalters macht, sich trotzdem natürlich auch unterscheiden muss. Die Bindung: die Schweizer Broschur, weil sich bei ihr die Seiten so plan aufschlagen lassen. Die Entscheidung für das Duplex-Druckverfahren, Schwarz und ein Grau dazu, wo es doch soviel sehr tiefes Schwarz in den Fotos von Vollmann gibt, so viele Grautöne aber auch. Nur nicht nachrechnen, was uns das Ganze gekostet haben wird. Augen auf und durch. Wir haben einen Fotografen entdeckt. Jedenfalls für uns, und deshalb warten wir nicht mit diesem Fotobuch bis die anderen drei Bände fertig sind.
Vielleicht
Vielleicht sind die Fotos von Vollmann ja so gut, weil er ein Amateur ist, kein professioneller Fotograf. Weil er nur fotografiert und kein Fotograf sein will. Denn dieses: etwas sein wollen, es tut den Künstlern nicht gut, und den Fotografen schon gar nicht, es verbraucht soviel Kraft: statt einfach machen, etwas sein wollen. Womöglich auch das noch: Karriere machen. Als Fotograf. Und auch das noch: als Fotograf, wo es doch so viele Fotografen gibt, die sich abstrampeln, um als Fotografen anerkannt zu werden, eine so große Konkurrenz. Der ganze Krampf, sich irgendwie aus der Masse der vielen Fotografen hervortun zu wollen, wo doch das Fotografieren so leicht geworden ist. Einfach auf den Auslöser drücken, den Rest erledigt die Elektronik. Vollmann scheint sich um all dies nicht zu kümmern, ihn plagen keine Nebengründe, er drückt einfach ab, das Motiv ist ihm Grund genug. Ihn bekümmert dann auch nicht, wie diese Fotos vergrößern, sie aufziehen, sie in einem Rahmen präsentieren, sie vielleicht sogar verkaufen, wie eine Fotogalerie finden, die ihn vertritt, ihn als Fotografen berühmt macht. Die Dateien abzuspeichern, ist ihm genug. Und vielleicht, aber nur vielleicht, denn es gibt ja doch sehr viele gute Fotografen, ist das ja so, dass dann eben doch der Fotograf, der kein Fotograf sein will, sondern einfach nur Fotos macht, die richtig guten Fotos machen kann. So wie Vollmann.
Florian Havemann, Oktober 2024