Beschreibung
»Damals war ich sechs. Ich nahm alles in mich auf und vergaß nichts. Ich hatte sogar zu weinen verlernt. Die Kraft reichte nicht dafür. Ich wuchs in dieser Zeit und wurde erwachsen nicht in Tagen, sondern in Stunden.«
In ihrem autobiografischen Band ‹Meine erwachsene Kindheit› – dem ersten von drei Erinnerungsbänden – beschreibt Ljudmila Markowna Gurtschenko (1935–2011) ihre Kindheit in Charkiw, wo sie von 1941 bis 1943 die Zeit der deutschen Besatzung überlebte. Es sind Erinnerungen an den Krieg, die sich für immer in das Gedächtnis eines Kindes eingeprägt haben.
Ljussja ist noch nicht einmal sechs Jahre alt, als die Wehrmacht am 24.10.1941 in Charkiw einmarschiert. Der Vater ist nach Kriegsausbruch an die Front gegangen. Ljussja und ihre Mutter schaffen es nicht, evakuiert zu werden. Sie bleiben in der von den Deutschen besetzten Stadt. Während des Winters sperren die Truppen der Wehrmacht die Zufahrten nach Charkiw praktisch ab. In der Stadt beginnt eine Hungersnot, die mit der Blockade von Leningrad vergleichbar ist. Die erschöpfte Bevölkerung wird von den Deutschen und deren Helfershelfern ausgeplündert und getötet. Der brutale Feind ist mit seinem Maschinengewehr allgegenwärtig. Ljussja sieht die Hinrichtung von Partisanen und leidet unter Hunger, Kälte, Durst. Im Februar 1943 befreit die Rote Armee Charkiw zum ersten Mal. Doch bald kehren die ‹zweiten Deutschen› zurück, wie die Einwohner sie nennen, und lassen ungehemmte Brutalität walten. Der ‹Vergasungswagen› beginnt, durch die Stadt zu fahren. Die Frauen und Kinder erleben eine schreckliche Zeit der Ohnmacht und versuchen zu überleben, so gut sie können; die kleine Ljussja stiehlt auf dem Markt und tritt als Sängerin (auch vor den Deutschen) auf. Sie ist nicht verzweifelt, nein, sie ist stolz darauf, die Ernährerin der Familie zu sein.
‹Meine erwachsene Kindheit› (Russisch 1982) erscheint hier erstmals auf Deutsch. Ljudmila Gurtschenko hat die Übersetzung im Alter persönlich in die Hände der Rostocker Übersetzerin Doreen Blask gelegt, die ihre deutsche Nachlassverwalterin geworden ist. Sie wird nach und nach auch die beiden späteren Erinnerungsbände auf Deutsch herausbringen.
Autorenportrait
Ljudmila Markowna Gurtschenko war Schauspielerin, Sängerin, Tänzerin, Rezitatorin – kurzum Revuestar! Am 12.11.1935 wurde sie in Charkiw, Ukrainische SSR, in einer musikalischen Familie geboren. Der Vater war Harmonikaspieler und trat gemeinsam mit seiner Tochter auf. Als die kleine Ljussja fünf Jahre alt war, besetzten deutsche Truppen die Heimatstadt. Wie aus ihrem autobiografischen Band ‹Meine erwachsene Kindheit› hervorgeht, prägten Hunger und Not ihre Kindheit. Ljussja versucht zu überleben und tritt als Sängerin (auch vor den Deutschen) auf. Ein besonders beeindruckendes Erlebnis war für sie der Besuch eines deutschen Fronttheaters, wo sie den Film Die Frau meiner Träume (1944) mit Marika Rökk sah. Das Bild der tanzenden und singenden Hauptdarstellerin kollidierte so stark mit dem Kriegsalltag, dass das begeisterte Kind beschloss, später selbst ein Filmstar zu werden. Nach ihrem Schulabschluss ging Ljudmila Gurtschenko nach Moskau und schrieb sich 1953 am Institut für Kinematografie ein.
Die erste wichtige Kinorolle bot der Studentin der junge Regisseur Eldar Rjasanow an. Die Silvesterkomödie Karnevalsnacht (dt. Nun schlägt’s 13!) war 1956 ein unglaublicher Erfolg an den sowjetischen Kinokassen. Die junge Protagonistin wurde als neue Ljubow Orlowa gefeiert und ihr Silvesterlied Fünf Minuten wurde zum Kulthit. Doch es folgten schwierige Jahre, in denen die Schauspielerin kaum Rollenangebote erhielt und sich deshalb fast ausschließlich der Estrada und dem Theater widmete. Erst in den siebziger Jahren gelang es ihr, sich vom Image der Komödiendarstellerin zu befreien und durch überzeugende dramatische Rollen, unter anderem in Zwanzig Tage ohne Krieg (1976) und Fünf Abende (1978), ein würdiges Comeback auf der großen Leinwand zu finden. Den Gipfel ihrer Kinokarriere erreichte Ljudmila Gurtschenko in der ersten Hälfte der achtziger Jahre mit ihren unvergesslichen Frauencharakteren, wie der Kellnerin Vera aus Bahnhof für zwei (1982), ebenfalls in der Regie von Eldar Rjasanow. Nach dem großen Erfolg von Bahnhof für zwei wurde sie 1983 zur Volkskünstlerin der UdSSR gewählt und erhielt mehrere staatliche Auszeichnungen. Das machte sie zu einer der berühmtesten sowjetischen Schauspielerinnen aller Zeiten.
Zugleich galt Ljudmila Gurtschenko als eine der stilvollsten Schauspielerinnen. Einige ihrer Outfits waren exzentrisch, viele davon hat sie selbst genäht. Sie besaß eine große Sammlung von Roben und epischen Outfits, die nach ihrem Tod im Jahr 2011 immer wieder öffentlich ausgestellt werden.
2009 drehte Ljudmila Gurtschenko ihre einzige Regiearbeit, den Film Bunte Dämmerung, dem die Geschichte des blinden Pianisten Oleg Akkuratow zugrunde lag. In diesem Film fungierte sie gleichzeitig als Autorin, Komponistin und Schauspielerin.
1982 erschien ihre erste Autobiografie ‹Meine erwachsene Kindheit›, der noch 1985 ‹Applaus› und 2003 ‹Ljussja, stop!› folgten.
Ljudmila Gurtschenko war sechsmal verheiratet und hatte eine 1959 geborene Tochter aus zweiter Ehe. Sie starb im Alter von 75 Jahren am 30.03.2011 in Moskau.
Rezension
Liebe Leserin, lieber Leser, Sie haben die einmalige Gelegenheit, mit dem Leben der großen sowjetischen und russischen Schauspielerin Ljudmila Gurtschenko in Berührung zu kommen. Bei der Lektüre ihrer Erinnerungen werden Sie ihre Kindheit miterleben, die Zeiten des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit nachempfinden und sich schlicht in ihr wirkliches Leben hineinversetzen.
Ich habe Ljudmila Gurtschenko immer mit Marlene Dietrich verglichen – zwei Frauen mit großem schauspielerischem Talent, aber unterschiedlichen Schicksalen. Ich bin froh, dass ich Ljussja viele Jahre lang nahestand. Wir teilten unsere Geheimnisse, unsere Freuden und Sorgen.
Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre des Buches und bin mir sicher, dass Sie sich anschließend noch mehr für das Werk dieser großen Frau interessieren werden.
Ihr Abt Daniil Irbits, Prior des russisch-orthodoxen Klosters St. Georg zu Götschendorf bei Berlin