Beschreibung
Gilgamesch, Isis, Parzival, König Arthur, die Welt der Feen oder Frau Holle … Die vertrauten alten Mythen vom Anfang und Ende der Welt, von göttlicher Macht, geheimnisvollen Schätzen und den archaischen Labyrinthen der Liebe sind hochaktuell. Hier begegnen sie uns neu und lesen sich bemerkenswert anders.
In brillanten literarischen Nacherzählungen schenkt uns Heide Göttner-Abendroth das Staunen über einige der bedeutendsten Mythen unseres Kulturraumes zurück. In 'Inanna > Gilgamesch > Isis > Rhea' erzählt sie die großen alten Göttinnenmythen des Vorderen Orients und östlichen Mittelmeerraumes neu, zentrale Mythen einer Kulturregion, in der die Wiege der matriarchalen Kultur für den gesamten westlichen Teil der Alten Welt stand. Wir erfahren von den göttlichen Lebenszyklen der Inanna von Sumer und vom Heroskönig Gilgamesch, der die Göttin verhöhnt und selbst-herrlich glaubt, er könne alles allein vollbringen. Isis von Ägypten kämpft – unterstützt von ihrem Sohn Horus – um die Macht, die der Sonnengott Re ihr streitig macht. Und für die griechische Rhea ist die Lage ernst, aber nicht ohne Hoffnung auf einen Sieg für die Welt der Göttin …
Auch wenn sie zauberhaft Geschichten erzählen kann:
Die bekannte Mythenforscherin legt kein 'Märchenbuch' vor. Denn die Mythen sind Überlieferungen historischer Ereignisse und Deutungen einer rund acht Jahrtausende umfassenden Epoche, die bis 2.000 v.u.Z. reicht und in der sich große Umwälzungen vollzogen. Mit ihren literarischen Erzählungen bietet Heide Göttner-Abendroth einen neuen Zugang und einen Schlüssel zum Verständnis der bis heute teils zu 'Märchen', teils zu Legenden verklärten oder als Ausdruck eines kollektiven Unbewussten missinterpretierten Geschichten. So weicht die Unverständlichkeit der einzelnen Mythen: Sie berichten von matriarchalen Kulturen und dem Einbruch patriarchaler Muster. Sichtbar wird in dieser Leseweise der Wandel eines faszinierenden Göttinkults.
Leseprobe
Inanna und der Gott der Weisheit
Inanna setzte die Schugurra, die Krone der Steppe, auf ihren Kopf. Sie lehnte sich an den Apfelbaum in ihrem heiligen Garten. Als sie sich so, nackt, nur mit der Krone auf dem Kopf, an ihren Apfelbaum lehnte, war ihre Vulva wunderbar anzuschauen. Inanna spendete sich selber Beifall: 'Ich bin die Göttin des Himmels und der Erde. Ich bin die Königin aller Gestirne. Alle Weisheit des Lebens fließt aus meinem Schoß, meiner wunderbaren Vulva. Dennoch werde ich nach Eridu gehen, bei den tiefen, süßen Wassern, zum Tempel des Gottes der Weisheit und sehen, was es mit seiner Weisheit auf sich hat!'
Inanna machte sich auf die Reise. Als sie sich Eridu bei den tiefen, süßen Wassern näherte, sprach der alte Enki, der Gott der Weisheit, der die Gesetzestafeln aller Tempel von Sumer hü-
tete und dessen Ohren weit offen waren, zu seinem Priester: 'Komm herbei, mein Diener! Ich höre Inanna sich meinem Tempel nähern. Wenn sie eintritt, erfrische ihr Herz mit kühlem Wasser, gib ihr Butterkuchen zu essen und gieße ein Trankopfer von Bier vor der Löwinstatue aus. Begrüße Inanna am heiligen Altar und behandle sie achtungsvoll!'
Der Priester befolgte Enkis Worte. Dann tranken Enki und Inanna zusammen Bier. Sie tranken viel Bier, und sie tranken immer mehr Bier. Mit ihren bronzenen Gefäßen, bis über den Rand gefüllt, den Gefäßen von Urasch, der Mutter Erde, prosteten sie einander herausfordernd zu.
Enki, schwankend vor Trunkenheit, trank Inanna zu und sprach: 'Im Namen meiner Macht! Im Namen meines Tempels! Der schönen Göttin Inanna werde ich alles geben: die Göttinschaft von Sumer, das Hohe Priesterinnentum von Sumer, die Krone und den Thron über das ganze Land.'
Inanna antwortete gelassen: 'Das nehme ich!'
Enki hob sein Gefäß ein zweites Mal und prostete Inanna zu: 'Im Namen meiner Macht! Im Namen meines Tempels! Der schönen Göttin Inanna werde ich die Erkenntnis der Wahrheit geben: durch die Kunst der Liebe und die Feier der Heiligen Hochzeit, durch ihren Abstieg in die Unterwelt und ihre Wiederkehr aus der Unterwelt.'
Inanna lächelte und antwortete: 'Das nehme ich!'
Enki hob sein Gefäß und prostete Inanna ein drittes Mal zu: 'Im Namen meiner Macht! Im Namen meines Tempels! Der schönen Göttin Inanna werde ich die Göttinschaft über Himmel und Erde geben. Sie soll die Gestirne regieren und die Herzen aller Menschen in Freude und Trauer bewegen. – Alle heiligen Tempel von Sumer sollen ihr gehören.'
Inanna lächelte noch mehr: 'Das nehme ich!'
Vierzehn Mal hob Enki sein Gefäß und prostete Inanna zu. Vierzehn Mal nahm sie an, was er ihr bot. So wurde sie Herrin über ganz Sumer. Taumelnd vor Trunkenheit sprach Enki zuletzt zu seinem Priester: 'Mein Diener – die schöne Göttin Inanna – ich glaube, sie will wieder nach ihrer Stadt Uruk aufbrechen. Ich wünsche ihr, dass sie ihre Stadt sicher erreicht.'
Inanna nahm alle Gesetze des Himmels und der Erde mit, die sie vorher schon besessen hatte. Und sie nahm die Gesetzestafeln aller Tempel von Sumer mit, die Macht über das ganze Land, die sie soeben bekommen hatte. Sie lud diese Gesetzestafeln in das Himmelsboot, den schwimmenden Mond. Sie stieß mit dem Boot, voll beladen mit ihrer Macht, vom Kai von Eridu ab.
Als das Bier denjenigen verließ, der zuviel davon getrunken hatte, als das Bier von dem alten Enki wich, als das Bier endlich den großen Gott der Weisheit verlassen hatte, schaute er sich in seinem Tempel in Eridu um. Er rief seinen Priester: 'Mein Diener, wo sind die heiligen Tafeln, auf denen die Gesetze aller Tempel von Sumer aufgezeichnet sind, auf denen die göttliche Weltordnung steht?'
'Mein Herr hat sie soeben der schönen Göttin Inanna übergeben.'
Da rief Enki entsetzt aus: 'Und wo ist der schwimmende Mond, das Himmelsboot, das am Kai von Eridu ankerte?'
'Die schöne Göttin Inanna ist mit ihm davongefahren.'
Enki schrie: 'Geh! Nimm die Dämonen mit dir und lass sie das Himmelsboot samt allen Gesetzestafeln zurückbringen!'
Der Priester beeilte sich, er erreichte Inanna im schwimmenden Boot und sprach: 'O Göttin, meine Herrin, Enki schickt mich nach Euch aus. Dem Wort des alten Gottes der Weisheit muss gehorcht werden. Er verlangt, dass Ihr das Himmelsboot mit allen Gesetzestafeln zurückgebt.'
Da wurde Inanna zornig und rief: 'Enki hat sein Wort gebrochen, sein Versprechen verletzt! In täuschender Absicht sprach er, als er sagte: im Namen meiner Macht – im Namen meines Tempels! In täuschender Absicht hat er dich zu mir gesandt!'
Kaum hatte Inanna diese Worte gesprochen, ergriffen die schrecklich behaarten Dämonen das Himmelsboot. Doch Inanna rief ihre Gefährtin Ninschubur herbei und sprach: 'Komm, Ninschubur, Amazone des Ostens und Hohe Priesterin meines Tempels in Uruk! Komm, meine Gefährtin, die mir weisen Rat gibt, meine Kriegerin, die an meiner Seite kämpft! Wasser berührte weder deine Hände noch deine Füße. Komm und rette das Himmelsboot mit den heiligen Tafeln!'
Da durchschnitt Ninschubur die Luft mit ihrer Hand. Sie stieß den Schrei aus, der die Erde erschüttert, und warf die haarigen Dämonen wie einen Wirbelsturm auf Eridu zurück. Das Himmelsboot setzte unbehelligt seine Fahrt fort und gelangte zum Großen Tor von Uruk.
Das Volk feierte voll Freude. Priesterinnen begrüßten das Boot mit Gesang, der König opferte Ochsen und Bier, Trommeln und Tamburine klangen. Die Kinder lachten und sangen, die Frauen boten Liebe an, die Männer präsentierten ihre Äxte, die Alten gaben Rat, alle Welt rief Inannas Namen. Das Himmelsboot ging am Tempel von Uruk, dem Haus der Inanna, vor Anker. Die heiligen Gesetzestafeln wurden ausgeladen, dem Volk gezeigt und mit lauter Stimme vorgelesen. Nun wussten alle von Inannas Macht über ganz Sumer. Sie sprach feierlich: 'Der Platz, wo das Himmelsboot anlegte, soll von nun an Weißer Kai heißen. Und den Platz, wo die heiligen Tafeln dem Volk vorgelesen wurden, nenne ich ab jetzt den Lapislazuli-Kai.'
Da ließ Enki seine Stimme aus der Ferne vernehmen: 'Im Namen meiner Macht! Im Namen meines Tempels! So sollen die Gesetzestafeln der Macht über Sumer nun in deiner Stadt bleiben. Mögen die Menschen in deiner Stadt gedeihen und alle Kinder Uruks sich freuen. Der Streit sei beendet, und das Volk von Uruk sei verbündet mit dem Volk von Eridu!'
So sprach Enki, der Gott der Weisheit, und Inanna blieb von nun an Herrin über ganz Sumer.
Autorenportrait
Heide Göttner-Abendroth, geb. 1941, ist Philosophin und Kultur- und Gesellschaftsforscherin. Sie hat zwei Töchter und einen Sohn. 1973 promovierte sie an der Universität München in Philosophie und Wissenschaftstheorie und lehrte anschließend zehn Jahre in München Philosophie. 1976 schloss sie sich der Neuen Frauenbewegung an, wurde zu einer Pionierin der Frauenforschung und zählt durch mehr als dreißigjährige Forschungsarbeit zu den Begründerinnen der modernen Matriarchatsforschung. 1986 rief sie die autonome 'Internationale Akademie HAGIA' bei Passau ins Leben, deren Leitung sie seither innehat.