Beschreibung
In seinem 1904 erschienenen Buch Die Berliner Bohème schreibt Julius Bab über Gerhart Hauptmanns Beziehung zum Friedrichshagener Dichterkreis: »Für den Ruhm der Friedrichshagener Kolonie aber wurde am wichtigsten ihr Nachbar in Erkner, der bald darauf als dramatischer Heros der Moderne entdeckte Gerhart Hauptmann. [...] er war damals dem Kern der Friedrichshagener so eng befreundet, daß man ihn mit Recht ihnen zugezählt hat; seine Erfolge haben dann am meisten dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf diese merkwürdige Vorortsbohème zu lenken.« Dieses Narrativ hält sich bis heute unangefochten in der Literaturwissenschaft – ungeachtet dessen, dass es mit den historischen Fakten nicht in Einklang zu bringen ist.
Die Uraufführung von Gerhart Hauptmanns dramatischem Erstling Vor Sonnenaufgang fand bekanntlich am 20. Oktober 1889 statt. Doch erst im Juli 1890 zogen Wilhelm Bölsche und Bruno Wille nach Friedrichshagen, ohne dass es dort bereits einen literarisch interessierten Kreis gegeben hätte. Die Voraussetzungen für die Entstehung dessen, was heute als Friedrichshagener Dichterkreis bezeichnet wird, entstanden vielmehr erst im August 1890 mit Gründung der Freien Volksbühne durch Bruno Wille und mit Bölsches Eintritt in die Redaktion der Freien Bühne. Zu diesem Zeitpunkt hatte Gerhart Hauptmann Erkner als zeitweiligen Wohnsitz aber bereits endgültig aufgegeben.
Es wird daher nicht verwundern, dass diese frühen Jahren in der Korrespondenz Wilhelm Bölsches mit Gerhart Hauptmann kaum einen Niederschlag gefunden haben: Lediglich drei Schriftstücke entstammen jener Zeit, und nur eines davon wurde vermutlich von Erkner nach Friedrichshagen gesandt. Auch wenn anzunehmen ist, dass der eine oder andere schriftliche Gruß aus dieser Frühphase verloren gegangen ist, ändert das nichts an dem Befund der vorliegenden Briefedition, dass die Freundschaft dieser beiden, die die Literaturgeschichte hartnäckig auf die Jahre des Naturalismus festschreibt, in Wahrheit über 50 Jahre bestanden und in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts ihre Hochphase erlebt hat.
Dass Bölsche auch mit Carl Hauptmann in Verbindung stand, und zwar besonders intensiv in den 1890er-Jahren, jener Phase mithin, als dieser sich gegen die weitere Verfolgung einer wissenschaftlichen Laufbahn und für die Dichtkunst entschied, ist womöglich noch weniger bekannt. Auch wenn Bölsches Briefe an Carl Hauptmann heute aufgrund der bewegten Nachlassgeschichte heute nur noch zu einem geringen Teil vorliegen, so belegen doch die überlieferten An-Briefe, wie wichtig Bölsche gerade in diesen Jahren des inneren Wandels als Ansprechpartner war.
Die Beziehung Bölsche – Hauptmann ist damit jedoch noch nicht hinreichend beschrieben. Die überlieferte Korrespondenz, die hier erstmals vorgestellt wird, umfasst 451 Briefe von insgesamt 21 Urhebern, zu denen neben den hier Genannten auch Ehefrauen und Kinder sowie einige weitere Familienmitglieder gehören. Der Briefwechsel, der 1889 beginnt, erstreckt sich über den Tod der Hauptbeteiligten hinaus bis ins Jahr 1962. Er wird in sieben unterschiedlich langen Kapiteln vorgestellt, die jeweils einem Mitglied der Familie Hauptmann zugeordnet sind. Der wissenschaftliche Apparat dokumentiert die unübersichtliche Überlieferungssituation und ermöglich durch Erläuterungen und Stellenkommentare ein tieferes Verständnis der Briefe. Dabei galt es, den unterschiedlichen Schwerpunkten der Korrespondenz gerecht zu werden: Neben lokalen und historischen Gegebenheiten sowie Werkbezügen betrifft dies vor allem biographische, persönliche und familiäre Hintergründe, die anhand von zumeist unveröffentlichten Quellen dokumentiert werden.
Neben dem Editorischen Bericht stellt die Einleitung die komplexe Überlieferungssituation dar und versucht im Falle Carl Hauptmanns eine Rekonstruktion der Nachlass-Geschichte, die sich auf die Nachlass-Bestände in insgesamt fünf Archiven stützt. Inhaltlich hat die Einleitung ihren Fokus auf den frühen Jahren und untersucht den Zeitpunkt des jeweils ersten Zusammentreffens Bölsches mit Carl bzw. Gerhart Hauptmann sowie die Entwicklung dieser Beziehung im Sommer 1889, jener Monate, die wohl den tatsächlichen Kern des späteren Friedrichshagen-Mythos bilden.
Inhalt
Band 1
Vorwort
Einleitung
Überlieferungssituation
Zum Nachlass Gerhart Hauptmanns
Zum Nachlass Carl Hauptmanns und seiner wechselvollen Geschichte
1921 bis 1946
1947 bis 1962
Die Nachlass-Situation heute
Zu den Bölsche-Briefen
Editorischer Bericht
Textkonstitution und Textdarbietung
Wissenschaftlicher Apparat
Wilhelm Bölsche und die Brüder Hauptmann
Die frühen Jahre (1887 bis 1890)
Bölsches erste Begegnung mit Gerhart Hauptmann
Bölsches erste Begegnung mit Carl Hauptmann
Bölsches frühe Aufsätze zu Gerhart Hauptmann
Gerhart Hauptmann und Friedrichshagen
Wende- und Schwerpunkte der Korrespondenz
August 1890 bis September 1893
Oktober 1893 bis 1900
1901 bis 1906
1907 bis 1917
1918 bis 1923
1924 bis 1932
1933 bis 1939
1940 bis 1962
Vorstellung der Korrespondenzpartner
Briefchronologie
Erstes Kapitel: Carl Hauptmann und Familie
Briefe 1 bis 136
Zweites Kapitel: Lotte Hauptmann
Briefe 137 bis 189
Drittes Kapitel: Marie Hauptmann (geb. Straehler)
Briefe 190 bis 191
Viertes Kapitel: Peter Hauptmann
Brief 192
Fünftes Kapitel: Arthur Straehler
Briefe 193 bis 197
Sechstes Kapitel: Max Marschalk
Brief 198
Band 2
Siebtes Kapitel: Gerhart Hauptmann und Familie
Briefe 199 bis 451
Anhang
Materialien 1: Bölsche betreffende Korrespondenz im Nachlass Carl Hauptmann
Materialien 2: Bölsche betreffende Korrespondenz im Nachlass Gerhart Hauptmann
Materialien 3: Lotte Hauptmanns Manuskript über Robert Hauptmann
Materialien 4: Wilhelm Bölsches Rede zu Gerhart Hauptmanns 70. Geburtstag
Verzeichnis der archivalischen Bestände
Abbildungsnachweis
Literatur
Siglenverzeichnis
Werke der Korrespondenzpartner, Bibliographien und Kataloge
Weitere Quellentexte
Sekundärliteratur
Nachschlagewerke
Namens- und Werkregister