Beschreibung
Inventur der Erinnerung
"Viel eher als eine logische oder zeitlich geordnete Folge werden diese Seiten - nach ihrer Fertigstellung oder Unterbrechung von außen - Archipel oder Sternbild sein, Bild des Blutspritzens, Auflodern grauer Materie oder letztes Erbrechen, womit mein Zusammenbruch (den ich mir nur als jähe Katastrophe vorstellen kann) den Himmel auf imaginäre Weise brandmarken wird.
Sie hinlegen, verschieben und häufeln, wie man mit Spielkarten zum Erfolg Kommt. Anfügen, bald um das Mosaik zu ergänzen, bald um eine Lücke zu schließen. Weglassen, falls ich (missmutig) einsehen müsste, das Abschneiden das einzige Heilmittel ist. Umgekehrt: Einfälle aufgreifen und Dinge zulassen, die, sollte ich nicht mehr dazu kommen, herauszufinden und zu erläutern, wie sie sich zu allem Übrigen fügen, den Eindruck des Umgereimten machen werden.
Zwar weiß ich in jenem Augenblick, was die Assemblage besagen will, doch bleibt mir verborgen, worauf sie hindeuten wird, sollte sie jäh erstarren wie ein Schicksal, das meine Hand nicht bestimmt hat, es sei denn, dass ich selbst das Spiel aufhalte, im Glauben, die Partie sei gelaufen, oder in der Annahme, dass dieser Wettlauf ohne mögliche Entscheidung offen bleiben müsse."
Autorenportrait
Michel Leiris wurde 1901 in Paris geboren. Er identifizierte sich in den 1920er Jahren mit der kulturellen und politischen Revolte der Surrealisten, zuerst in der Gruppe um André Breton, dann an der Seite von Georges Bataille. Nach seinem Studium der Ethnologie (1933–1938) arbeitete er bis 1971 im Musée de l’Homme. Reisen führten ihn auf die Antillen, nach China und nach Kuba. Als Autobiograph und Ethnograph, Dichter und Essayist begeisterte er sich für subversive Wortspiele, den Jazz, die Malerei, den Stierkampf wie für die Oper und war zudem ein früher Kritiker von Kolonialismus und Rassismus. 1950 erschien »Ethnographie und Kolonialismus«, die erste kritische Analyse der kolonialen Verstrickung des Faches. Nach Phantom Afrika (1934) spaltete er sein Werk, verfasste die ethnographischen (vor allem afrikanistischen) Arbeiten u.a. über die Geheimsprache der Dogon oder den äthiopischen zar-Besessenheitskult in seinem Büro im Souterrain des Musée de l’Homme und die autobiographischen und literarischen Schriften im Schlafzimmer seiner Wohnung. Beide Seiten seines Werks waren dennoch immer aufeinander bezogen. Bei Matthes & Seitz erschienen zwischen 1982 und 1999 die Übersetzungen der vier Bände von Die Spielregel (Streichungen, Krempel, Fibrillen und Wehlaut, dt. von Hans Therre), außerdem der surrealistische Roman Aurora (1979) und Der Spiegel der Tauromachie (1982). Michel Leiris starb 1990 in Paris, seine zentrale literarische Maxime lautete: »Keine schöne Lüge produzieren, sondern eine Wahrheit, die ebenso schön wäre wie die schönste Lüge.«