Beschreibung
Das Buch, das demnächst eine zweite Auflage erhalten wird, geht unter die Haut und macht das Grauen der NS- Ideologie und der entsprechenden Gesellschaft nachvollziehbar. Werner Nickolai beschäftigt sich schon seit Jahren aus sozialarbeiterischer Sicht mit dem Nationalsozialismus und ist zusammen mit dem Christophorus Jugendwerk in Oberrimsingen im Verein "Für die Zukunft lernen - Verein zur Erhaltung der Kinderbaracke Auschwitz- Birkenau e. V." engagiert. Für die Zukunft lernen könnte auch die Überschrift sein zur Ringvorlesung, die dem Buch den Titel lieh, durchgeführt im Jahre 2007 an der Kath. Fachhochschule Freiburg. Der erste Beitrag (" Wohnungslose im Nationalsozialismus") von Wolfgang Ayass thematisiert den NS-Umgang mit Wohnungslosen, Bettlern u. a. ab demjahr 1933 am Beispiel des Wandermusikers Ernst Rutzen. Ab 1938 wurden Wohnungslose nicht nur verfolgt und kriminalisiert, sondern auch in großer Zahl in Konzentrationslager verschleppt (Aktion "Arbeitsscheu Reich" im Nazijargon). Der Autor problematisiert hier auch den Begriff "nichtsesshaft", der aus der NS-erminologie in die heutige Fachsprache der Sozialarbeitswissenschaft eingewandert ist. Bettler, Wanderarbeiter, Landstreicher wurden als "arbeitsscheu" und "asozial" diskriminiert, ausgegrenzt, zwangssterilisiert (ab 1934) und später auch systematisch ermordet. Fürsorgeeinrichtungen stellten im NS-System keinerlei Schutz, sondern eher eine Bedrohung für sie dar. Rassistische Ideologie und fürsorgliche Disziplinierung wirkten hier unheilvoll ineinander. In "Spätes Tagebuch" beschreibt Max Mannheimer minutiös in erschütternder Weise den Lageralltag in den Konzentrations- und Todeslagern Theresienstadt, Auschwitz, Warschau und Dachau. "Die Wahrheit war anders. Es gab keine Kindergärten. Es gab keine Besuche. Es gab nur Hunger, Elend und Tod" (49).
Die Sozialarbeit wird von Werner Nickolai ("Eine Profession erinnert, auch an sich selbst: Sozialarbeit und Nationalsozialismus") sehr kritisch in den Blick genommen. Auch der Exodus der entstandenen Sozialarbeitstheorie von Pionierinnen, wie z. B. die 1916 zum Protestantismus konvertierte Alice Salomon, die ins Exil fliehen musste, macht deutlich, dass Sozialarbeit in ihrem Selbstverständnis mit dem Nationalsozialismus eigentlich unvereinbar sein müsste. Soziale Arbeit als diakonische Arbeit ist im NS-Staat in dieser Form fast völlig zum Erliegen gekommen, ja geradezu zum Handlanger der NS-Tötungsmaschinerie im Gesundheitswesen mutiert. Innerhalb kirchlich verantworteter Sozialarbeit hat die kritische Aufarbeitung der eigenen Verstrickung in das NS-System erst begonnen. Harald Welzer fokussiert in seinem Beitrag über "Die Deutschen und ihr ‚Drittes Reich'" die Alltagswirklichkeit als Teilhabemöglichkeit für die Deutschen, die den rassistischen Vorgaben der NS-Ideologie entsprachen. Welzer charakterisiert den radikalen Wertewandel als "fortschreitende Normalisierung radikaler Ausgrenzung" (63). Nichtbetroffene nahmen die mörderischen Maßnahmen der Nazis nur unzureichend wahr, gleichwohl bedeutete auch die Nicht-Wahrnehmung Unterstützung des Wertewandels zwischenmenschlicher Umgangsformen (66). Normgebend wurde genau das, was wir aus heutiger Perspektive menschenverachtendes Verhalten nennen würden.
Stephan Marks ("Über Nationalsozialismus, Scham und die Folgen") rückt den Zusammenhang von Nationalsozialismus und Beschämung/Scham in den Vordergrund. Im Forschungsprojekt "Geschichte und Erinnerung" wurden 40 Zeitzeugen aus der NS-Zeit befragt und in den Interviews die Beschämungsstrukturen der NS-Ideologie rekonstruiert. Hitler wird "als derjenige beschrieben, der die Ehre Deutschlands wieder herstellt [. ]" (82). Diese Beschämungsstrukturen wirkten, so die These Marks', nachhaltig in der heutigen deutschen Gesellschaft nach und verhinderten Demokratisierungs- und Partizipationsprozesse. Peter-Otto Ullrich ("Nicht an ihrem Ort. Sondierungen zu Stellung und Verhalten der römisch-katholischen Kirche in der nationalsozialistischen Gesellschaft aus heutiger Sicht") rekonstruiert die verschiedenen Phasen der Einvernahme der röm.-kath. Kirche in das nationalsozialistische Unrechtssystem. Der Autor beklagt das Schweigen der Amtsträger, das zu einer massiven Vertrauenskrise zwischen Kirchenleitungen und Kirchenvolk geführt habe; das Reichskonkordat habe den politischen Katholizismus zum Schweigen gebracht oder Personen an das NS-Regime ausgeliefert. Auch das Verhalten der Amtskirche der jüdischen Bevölkerung gegenüber war von taktischem Interesse des eigenen Überlebens und von Opportunismus geprägt, was letztlich zur Perfektionierung der NS-Vernichtungsmaschinerie beigetragen habe. Thomas Broch macht mit "Fragen zur Rezeption des Nationalsozialismus in Kunst, Literatur und Film" auf die abgründige Dialektik von Kunst aufmerksam, die, wenn sie den Nationalsozialismus fokussiert, nicht nur Kunst sei, sondern immer auch Dokument der Barbarei. Lesens- und empfehlenswert ist das Buch für alle, die in pädagogischen Berufen arbeiten und sich selbstkritisch mit der NS-Ideologie auseinandersetzen.
Wilhelm Schwendemann, Freiburg